Das Eulentor
intensiv ruckelte, stand mir der Schweiß auf der Stirn. Meine Finger wurden eiskalt. Die Schachtel mit den Streichhölzern klapperte in meiner Hand. Ich mußte mich beruhigen, die Augen schließen und tief durchatmen – nur so würde ich die nächsten vierundzwanzig Stunden überstehen. Als sich mein Herzschlag normalisierte, entzündete ich die Petroleumlampe, drosselte die Flamme jedoch auf ein Minimum, um Brennstoff zu sparen. Ich würde das Licht noch früh genug brauchen – dann, wenn endlose Angst und Kälte in der tiefsten Dunkelheit nach mir griffen.
Ich schielte auf den Hebel. Tat ich überhaupt das Richtige? Sollte ich kurz vor meiner Heimkehr mit dem Schiff alles riskieren? Noch konnte ich die Erdfahrt stoppen. Ich mußte nicht dort runter, niemand zwang mich dazu. Marit, Nilsen und Gjertsen würden es verstehen, falls ich die überstürzte Fahrt abbrach. Hatte Hansen es überhaupt verdient, gerettet zu werden? Immerhin war er zum Mörder geworden! Sollte ich tatsächlich meinen Hals für ihn riskieren? Ich war ihm zu nichts verpflichtet. Sollte er doch verrecken! Er hatte die Entscheidung selbst getroffen. Ich mußte nur den Hebel kippen, wodurch sich die Drehrichtung der Zahnräder änderte, und anschließend den Generator anwerfen. In zwei Tagen könnte ich meine Kabine an Bord der Skagerrak beziehen und nach Wien reisen, wo Katharina auf mich wartete. Dann war die Sommerpause vorbei und die Vorstellungen begannen. Ich könnte in der Theaterloge sitzen und Katharina in der Aufführung von Goethes Faust bewundern. Dabei würde ich den Alptraum Spitzbergen für immer vergessen, alle Ängste hinter mir lassen.
Mein Körper vibrierte. Mit jedem Meter, den ich nach unten fuhr, wurden meine Zweifel größer – aber auch meine Gewissensbisse. Sollte nach Brehms, Rönnes und Björns Tod auch noch Hansen sterben? Ich dachte an meinen Schwur, keinen weiteren Mann mehr zu verlieren. Drei Opfer binnen einer halben Woche waren mehr als genug. Aber möglicherweise kam ich selbst nie wieder zurück. Während sich meine Gedanken überschlugen und meine Hand den Hebel umklammerte, ratterte die Gondel beharrlich in die Tiefe. Ich atmete den Schwefelgestank ein und blickte ständig auf den Schalter. Es war nur ein Handgriff! Aber ich wußte, falls ich jetzt abbrach, würden mich die Vorwürfe und quälenden Fragen über Hansens Verbleib ein Leben lang verfolgen. Ich mußte es tun, wenn auch nur, um meinen Seelenfrieden zu finden. Also versuchte ich, keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.
Vorsichtig trat ich an den Rand der Plattform. Ohne Sicherheitsgitter fühlte ich mich wie ein Schiffbrüchiger auf einem im Meer treibenden Floß. Ich warf einen Blick über den Rand nach unten. Wie auf einer endlosen Straße, die in die Dunkelheit führte, ratterte die Gondel in die Tiefe. Die Sturmlichter im Abstand von fünfzig Metern leuchteten nicht mehr. Das trübe Glas, worin sich das Licht der Öllampe spiegelte, kam aus der Dunkelheit auf mich zu und verschwand über meinem Kopf nach oben. Sobald ich lange genug in den Abgrund starrte, bekam ich ein seltsames Gefühl, das sich schwer beschreiben ließ. Nach einer Weile glaubte ich sogar, das Surren der Glühfäden zu hören, was natürlich Einbildung war. Ich sah auf die Uhr. Seit dem Beginn meiner Fahrt waren erst zwanzig Minuten vergangen. Ich rechnete im Kopf nach. Bei einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern pro Stunde befand ich mich erst drei Kilometer unter der Oberfläche.
Meine Finger waren eiskalt und zitterten immer noch, zugleich wußte ich, es würde schlimmer werden – mit jedem Meter. Ich hockte mich im Schneidersitz in die Mitte der Plattform neben die Lampe, trank einen Schluck Wasser und versuchte, an etwas Erfreuliches zu denken … kam aber immer wieder zu der Erkenntnis, daß es nichts Erfreuliches in meinem Leben gab, das mich länger als ein paar Minuten ablenken konnte. Egal ob ich an Katharina dachte, an meine Mutter, an Vaters Arztpraxis, meine Freunde oder die Wiener Wohnung – immer wieder kehrten meine Gedanken zu diesem Schacht zurück, als verlaufe er nicht nur ewig ins Erdinnere, sondern auch mitten durch mein Leben, um den alle anderen Ereignisse wie Nebensächlichkeiten kreisten.
Ich starrte an die Wand. Als ich den vierten Kilometer passierte, tauchte die Einkerbung auf, die wir vor zwei Jahren in den Fels getrieben hatten. Am Ende des siebten Kilometers sah ich die Spuren jener Winde, die wir im September 1912 montiert
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