Das Eulentor
würde, zuckte aber im letzten Moment zurück. Ich konnte den Leichnam, dessen Anblick nichts Vertrautes mehr hatte, unmöglich berühren. Lange stand ich reglos da, während mir der Sturm den Schnee ins Gesicht trieb. Schließlich entriß ich Rönnes starren Händen den Revolver und rannte damit zurück in die Station.
Erst im Schachtraum bemerkte ich, wie kalt mir war. Mich fröstelte am ganzen Leib. Das Hemd klebte mir, naß von Schnee und Schweiß, wie ein feuchtes Tuch auf dem Körper. Mit zitternden Händen öffnete ich die Waffe. Zwei Kugeln steckten in der Trommel. Eine genügte. Falls ich den Weg nach oben nicht mehr schaffen oder der Wahnsinn nach mir greifen sollte, würde ich sie benutzen – sofern ich noch einen letzten, klaren Gedanken fassen konnte. Kurz und schmerzlos mit einer Kugel im Kopf zu enden, war mir tausendmal lieber, als in den Tod zu springen oder elend auf der Plattform zu verrecken. Dann würde ich wie Rönne herausfinden, ob es für Selbstmörder tatsächlich einen Himmel gab oder nicht. In diesem Moment stürzten Marit und Gjertsen in den Raum. Nilsen folgte ihnen mit einem großen Faß auf den Schultern.
»Was haben Sie vor?« Marit starrte auf den Revolver.
Mein stummer Blick schien ihr Antwort genug, denn sie wandte sich ab, um die Dieselreste der lecken Fässer mit einer Kanne auszuschöpfen. Ich steckte die Waffe in den Hosenbund.
Eine halbe Stunde später hatten wir jeden Dieseltropfen zusammengetragen, den wir finden konnten, und anderthalb Fässer voll bekommen. Zwar lag damit die Stromversorgung der Station vollends brach, doch in zwei Tagen legte das Schiff ohnehin an. Jedenfalls war damit mein Aufstieg einigermaßen gesichert – je nachdem, wie schwer die Gondel bei der Fahrt wog. Deshalb befreiten wir die Ersatzgondel von jedem unnötigen Gewicht. In Windeseile rissen wir das Sicherheitsgitter herunter, entfernten die Geräte und Stühle, schraubten die Blechverkleidung des fix auf der Gondel montierten Motors ab und entfernten sogar die Leibschüssel für längere Fahrten. Nilsen arbeitete mit seinen Bärenkräften wie ein Berserker, doch nicht, weil er Hansen retten wollte, sondern um eine Chance zu bekommen, ihn lebend in die Finger zu kriegen. Gewiß überlegte er sich schon, wie er dem Walfänger mit bloßen Händen den Hals umdrehen würde – doch damit wollte ich mich im Moment nicht beschäftigen. Sollte ich mit Hansen tatsächlich das Tageslicht erreichen, würden wir weitersehen. Zunächst einmal galt es, Hansen rechtzeitig zu erreichen.
Nur mit dem Revolver, einer Petroleumlampe, einer Packung Streichhölzer, einer Strickleiter und zwei Wasserflaschen betrat ich die nackte Plattform. Mehr wollte ich nicht mitnehmen. Ich zog sogar meine Schuhe aus und legte den Gürtel mit der Metallschnalle ab – jedes Gramm zählte. Danach umklammerte ich den Hebel, der das Zahnräderwerk in Gang setzen und den Käfig über die Schienen nach unten rattern lassen würde. Siebzig Kilometer. Der bloße Gedanke daran ließ meinen Mund austrocknen.
»Ich habe Rönnes Grab geöffnet«, sagte ich zu Gjertsen, obwohl er wußte, was ich draußen getan hatte. »Schaufelt es wieder zu, und beerdigt Björn daneben, während ich fort bin. Betet für beide.«
Gjertsen nickte nur. Ich legte den Hebel um, worauf die Zahnräder klackernd in die Kerben des Schienenstrangs griffen. Niemand sagte ein Wort. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um Ansprachen zu halten. Ruckelnd setzte sich die Gondel in Bewegung. Bei dem Gedanken, bald in vollkommener Dunkelheit verschwunden zu sein, erfaßte mich ein Kälteschauer. Marit, Nilsen und Gjertsen beugten sich über den Rand des Lochs. Wehmütig blickte ich nach oben, während ich Meter für Meter in den Schacht abtauchte.
»Bringen Sie ihn rauf!« sagte Nilsen leise. Seine Stimme hallte an der Felswand wider.
Ich antwortete nicht. Die runde Öffnung wurde immer kleiner. Bald sah ich nur noch die Umrisse dreier Köpfe, die sich über den Abgrund beugten, um mir nachzusehen. Minuten später hatte ich die Öffnung aus den Augen verloren. Ein bekanntes, beklemmendes Gefühl überkam mich. Ich hatte es vor anderthalb Jahren zum letzten Mal verspürt. Vor allem erinnerte mich das klickende Geräusch der Zahnräder an meine letzte Erdfahrt. Gleichzeitig stiegen böse Erinnerungen in mir hoch. Die Angstzustände, das Gefühl der Enge und die Furcht vor einem Absturz in die ewige Tiefe breiteten sich in meiner Brust aus. Als die Gondel zum ersten Mal
Weitere Kostenlose Bücher