Das Eulentor
hatten. Die Fahrt nach unten glich einer Zeitreise. An der Felswand verewigt hingen die Bruchstücke unserer Bemühungen. Zunächst einfache Seilwinden, dann Elektrowinden mit Rollbügeln, später Zahnradgondeln mit einem eigenständigen Antrieb, um damit zum absoluten Tiefpunkt des Schachts vorzudringen. Nach einer Stunde erreichte ich den zehnten Kilometer. Ab hier hatten wir begonnen, mit einer gelben Farbe den Tiefenstand in Metern an die Felswand zu malen. Beim ersten Versuch war Hansen der Farbeimer aus der Hand geglitten, worauf er mit dem Pinsel zornig die gesamte Wand besprenkelt hatte. Mittlerweile waren die Farbspritzer zwar verblaßt, aber immer noch zu sehen, wenn man wußte, wo man suchen mußte. Bei dem Anblick gefror meine Stimmung. Wenn Hansens Aussage stimmte, würde ich tief unten auf Christiansons Antlitz im Fels stoßen. Eine unerklärliche Kälte kroch durch meine Glieder. Warum kam ich ausgerechnet jetzt auf diesen Gedanken? Ich wollte ihn verdrängen, doch er ließ mich nicht los. Was befand sich wohl an der tiefsten Stelle des Schachts? In meiner Phantasie malte ich mir die verrücktesten und schrecklichsten Dinge aus. Irgend etwas lauerte dort unten – ich war mir sicher. Irgend etwas erwartete uns, zog uns magisch an. Jenes Etwas, das Christiansons Gesichtszüge im Fels verewigt hatte.
Ich schloß die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken. Aber ich konnte mich nicht von dieser Vorstellung lösen, daß ich bald Christiansons verzweifeltes, schmerzverzerrtes Gesicht in der Wand zu sehen bekommen würde. Hör auf damit, ermahnte ich mich. Ich würde noch durchdrehen! Meine Gedanken schlugen Kapriolen. Da fielen mir Hansens Worte ein. Ich spiele schon lange nicht mehr mit dem Banjo, wenn ich unten bin. Die Töne klingen merkwürdig verzerrt. Ich kann es dir nicht beschreiben, du müßtest es selbst hören. Mein Freund, das würde ich bald! Intensiv lauschte ich dem Klicken der Zahnräder. Noch klangen die Geräusche normal, trotzdem wagte ich nicht, auch nur einen Mucks von mir zu geben. Doch einmal mußte ich die Gondel stoppen, und in diesem Moment würde eine entsetzliche Stille einkehren, in der ich die merkwürdig verzerrten Klänge zu hören bekam, sobald ich ein Geräusch verursachte. Ich trank einen weiteren Schluck, rollte mich neben der Lampe zusammen, zog die Beine an und schloß die Augen. Das Vibrieren der Holzplatte massierte meine Arme. Der Boden verstärkte das Geräusch der klickenden Zahnräder. Gelegentlich öffnete ich die Augen, um nach der nächsten Farbmarkierung Ausschau zu halten. Das mickrige Licht der Öllampe spiegelte sich in der Felswand. Die pechähnliche Substanz schillerte, als schwitze der Schacht, als verfüge er über eine Ausdünstung aus Hitze und Schwefel. Dieser üble Gestank hüllte mich immer dichter ein, bis er wieder von dem unerklärlichen Luftzug vertrieben wurde, der stets ohne Vorwarnung auftrat. Ab und zu fuhr ich an einem Nest vorüber, das verborgen in einem Felsriß hing. Zum Glück reichte das Lampenlicht nicht aus, um die Details erkennen zu lassen, die sich in den Spalten verbargen. Bevor ich einschlief, sah ich die dreiundzwanzig Kilometer-Marke. Das Ruckeln und Klicken lullte mich ein, wiegte mich in den Schlaf und folgte mir in meine Träume.
*
Irgendwann wachte ich auf. Der gedämmte Schein der Petroleumlampe fiel auf das Zifferblatt der Taschenuhr. Mittlerweile war die Gondel sechseinhalb Stunden unterwegs. Ich kauerte mich im Schneidersitz in die Mitte der Plattform und starrte auf die vorbeigleitende Felswand. Obwohl es hier unten angeblich permanent knapp zehn Grad haben sollte, fror ich entsetzlich. Doch brachte es nichts, mir in die Hände zu hauchen oder sie unter die Achseln zu klemmen. Es war eine innere Kälte, die mir wie ein Eisblock in den Knochen saß. Um mich warmzuhalten, wippte ich nach vorne und zurück, wobei der Walfischknochen um meinen Hals baumelte. In Kürze würde sich herausstellen, ob es sich dabei tatsächlich um einen Talisman oder vielmehr um einen Unheilbringer handelte.
Nach einer Weile passierte die Gondel das Ende des achtundsechzigsten Kilometers. Ein unglaublicher Druck entstand in meinem Kopf. Mein Puls stieg, ich hörte förmlich das Blut in den Ohren rauschen. Meine Augen schmerzten, und kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Wahrscheinlich bildete ich mir das alles nur ein. Trotzdem sagte ich mir, daß es bald vorüber sein würde.
Die Zeit verging träge, als tropfe sie
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