Das Evangelium nach Satan
Mauerbrüstung beugt. Dann dringt von unten eine merkwürdig tot klingende Stimme zu ihr empor, die fordert: »Lasst Seile herab, damit wir emporsteigen können! Lasst Seile herab, wenn ihr nicht wollt, dass wir uns an euren Seelen gütlich tun!«
Die Nonnen, die sich hinter der Mauer zusammendrängen, schreien auf, sodass Mutter Gabriella sie streng zurechtweisen muss. Dann schleudert sie den Reitern entgegen: »Was wollt ihr Strauchdiebe und Brandstifter hier?«
»Wir suchen eine Handschrift, die man uns gestohlen hat und die ihr zu Unrecht in euren Mauern aufbewahrt.«
Mutter Gabriella zittert. Sie hat begriffen, wer die ›Mönche‹ sind und welche Handschrift sie meinen. »Alle Werke hier im Kloster gehören der Kirche und sind mit dem Siegel des Tieres gekennzeichnet. Also zieht eures Weges, wenn ihr kein Ermächtigungsschreiben Seiner Heiligkeit des Papstes Klemens VI. in Avignon vorweisen könnt.«
»Ich habe eine weit bessere Ermächtigung, Weib. Sie ist von Satan eigenhändig unterschrieben. Bei den Dämonen, die uns leiten – lasst Seile herab, sonst müssen wir euch töten!«
»Kehrt doch zum Teufel zurück, wenn ihr von ihm kommt, und sagt ihm, dass ich nur Gott gehorche.«
Das Geheul der Seelenräuber erhebt sich entlang der ganzen Mauer. Man könnte glauben, dass es Tausende sind und ihre aufeinanderprallenden Stimmen in die Unendlichkeit reichen. Als wieder Stille eintritt, beugt sich die Oberin erneut über die Brüstung. Was sie sieht, lässt ihr das Mark in den Knochen erstarren: Mit den Nägeln in die Spalten der Granitfelsen gekrallt, erklettern die Seelenräuber die fast senkrecht abfallende Felswand so leichtfüßig, als führte ein Weg herauf.
∗ ∗ ∗
»Maria, Sie müssen jetzt aufwachen.«
Carzo schüttelt die keuchende und schwer atmende Maria.
Im Laufschritt führt Mutter Gabriella ihre Nonnen in die Tiefen des Klosters. Unmittelbar bevor sie die geheimen Gänge erreichen, dreht sie sich um. Von Entsetzten versteinert, sind einige der Nonnen zurückgeblieben. Teils haben sie sich in die Tiefe gestürzt, um dem entsetzlichen Schicksal zu entrinnen, das sie erwartet, teils knien sie weinend am Boden. Die ersten Seelenräuber, die über die Brüstung springen, brechen ihnen das Genick und werfen sie über die Mauer in die Tiefe.
Carzo hebt Marias Lider an. Ihre Augenfarbe hat sich verändert. Die Droge der Schamanen hat die Pupillen erweitert. Ihr Blick wirkt wie tot, als befinde sich ihr Bewusstsein vollständig in jenem der alten Nonne. Eine geistige Verschmelzung von einem Ausmaß, wie Carzo das bisher ausschließlich bei einigen Besessenen im letzten Stadium ihres Leidens erlebt hat. Er schüttelt Maria mit aller Kraft. Er muss sie unbedingt aus ihrer Trance zurückzuholen, weil sie sonst Gefahr läuft, in einer psychiatrischen Klinik zu landen, wo sie ans Bett fixiert auf immer in dem Geist einer alten Nonne eingesperrt bleiben würde, die seit über sechshundert Jahren tot ist.
»Maria Parks, hören Sie mich? Sie müssen sofort aufwachen.«
Er hebt den Kopf, als sich ihre Hand blitzschnell von der Sessellehne löst und die seine mit überraschender Kraft umklammert. Er versucht, sich diesem zermalmenden Druck zu entziehen, und versteinert, als er die tonlose Stimme hört, die aus ihren unbewegten Lippen dringt: »O mein Gott, sie kommen …«
10
Mutter Gabriella hat sich mit ihren Nonnen in die Bibliothek der verbotenen Bücher geflüchtet. Dort zwischen den staubbedeckten Regalen, die sich an den Wänden entlangziehen, haben sie mit trockenem Reisig in den großen offenen Kaminen Feuer gemacht. Jetzt bilden sie eine Kette, um sich die Handschriften zureichen, deren Inhalt niemand erfahren darf. Band auf Band landet im hoch auflodernden Feuer.
Unterdessen hat Mutter Gabriella eine verborgene Tür geöffnet und ist in einen geheimen Raum geschlüpft. Nachdem sie den Zugang dorthin verschlossen hat, kniet sie nieder, nimmt einen Granitstein aus dem Boden, holt mehrere verschlossene Behälter aus dem Versteck und stellt sie neben sich. Sie öffnet sie und nimmt Päckchen heraus, die in mehrere Lagen Tücher gewickelt sind. Eines davon enthält einige Knochen sowie einen Schädel mit einer Dornenkrone darauf. Ihre Hände beginnen zu zittern. Sie erinnert sich … Vierzig Jahre ist es jetzt her, seit sie den zerschmetterten Leichnam der Oberin Mahaud de Blois am Fuß der Umfassungsmauer des Felsenklosters gefunden hat. Danach hat sie abgewischt, was die Selbstmörderin
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