Das Evangelium nach Satan
mit ihrem Blut an eine Wand ihrer Zelle geschrieben hatte. Seit auch sie das Satansevangeliums gelesen hatte, war ihr der Grund für die Verzweiflungstat der Mutter Oberin klar, und sie hatte alles, was sie wusste, dem Papst mitgeteilt. Daraufhin hatte dieser insgeheim Männer ins Heilige Land entsandt. Dominikaner und Ritter des Ordens der Archivare hatten gemeinsam das Geröll vor dem Eingang zur Höhle im Hermongebirge beiseitegeräumt. Nachdem sie sich gegen die Giftspinnen und Skorpione geschützt hatten, von denen es dort wimmelte, hatten sie die Überreste des Janus ausgegraben, die Knochen unter sich aufgeteilt und sich getrennt, um einzeln nach Europa zurückzukehren. Dort hatte man die Gebeine den Weltfernen Schwestern im Felsenkloster am Mons Cervinus zur Aufbewahrung anvertraut. Ja, das lag jetzt vierzig Jahre zurück …
Nachdem sie den Schädel in eine Lederhülle gelegt hat, steckt sie die Knochen in den Aufschlag ihres Habits und kehrt zu ihren Mitschwestern zurück, die unterdessen das Feuer in den Kaminen mit dem Inhalt der Bibliothek in Gang gehalten haben.
Schwer hängt der Geruch nach verbranntem Leder in der Luft. Mit Staunen sehen die Nonnen, wie Mutter Gabriella Knochen ins Feuer wirft. Sie begreifen, dass alles verloren ist, und machen sich wieder ans Werk. Gerade, als die kostbarste ihrer Handschriften auf dem Weg zum Feuer ist, dröhnen harte Schläge gegen die Tür der Bibliothek.
»O mein Gott, sie kommen …«
Flammenschein rötet Mutter Gabriellas Gesicht, als sie das Satansevangelium an sich nimmt, auf dessen Einband die filigrane blutrote Schrift im Dämmerlicht schwach leuchtet. Bedrückt sieht sie ins Feuer. Jeden Augenblick kann die schwere Eichentür unter dem Rammbock der Seelenräuber nachgeben. Die verbleibende Zeit genügt nicht, die Handschrift zu verbrennen, das ist ihr bewusst. Rasch schiebt sie das Buch in eine Stoffhülle und wirft sie zusammen mit dem Janus-Schädel in die Klappe, durch welche die Nonnen ihren Abfall ins Freie befördern. Eine zweihundert Ellen lange steinerne Rutsche führt in eine aus dem Felsen gehauene Abfallgrube. Dann zeigen ihr die Entsetzensschreie ihrer Mitschwestern, dass die Tür gesprengt ist.
Sie wendet sich um. Einen von Blut triefenden Dolch in der Hand, mit dem er soeben eine Nonne aufgeschlitzt hat, die ihm in den Weg getreten war, kommt der Anführer der Seelenräuber auf sie zu. Ein entsetzlicher Gestank geht von ihm aus. Seine Füße stecken in schweren Reiterstiefeln, sein Gesicht ist unter einer großen Kapuze verborgen. Im Dämmerlicht leuchten seine Augen wie auch das schwere silberne Medaillon, das er um den Hals trägt. Ein fünfzackiger Stern, in dessen Mitte ein Dämon mit dem Kopf eines Ziegenbocks zu sehen ist. Das Zeichen der Teufelsanbeter. Narben auf seinen Armen, die vom Handgelenk bis hinauf zu den Ellbogen reichen, bilden ein blutrotes Kreuz. Es ist von Flammen umgeben, deren Spitzen sich vereinigen und den titulus vom Kreuz Christi bilden.
»Wer seid Ihr?«
Eine Grabesstimme dringt aus der Kapuze des Mönches. »Ich heiße Kaleb der Wanderer.«
Namenlose Furcht erfasst die Oberin. Von einem solchen Dämon darf sie nicht das geringste Mitgefühl erwarten, und so stürzt sie sich auf seinen Dolch. Doch der Seelenräuber ist schneller, und mit einem Schmerzensschrei sinkt sie zu Boden. Dann rammt er ihr die Faust in die Kehle. Ihr wird schwarz vor Augen. Sie spürt seinen Pestatem dicht vor ihrem Gesicht, als er sagt: »Keine Sorge, Mutter Gabriella, Ihr werdet bald sterben. Vorher aber sagt Ihr mir, wo ich das Evangelium finde.«
11
»Maria, hören Sie mich?«
Carzo beißt sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, denn Marias Finger schließen sich immer fester um seine Hand. Als er den Blick senkt, sieht er auf dem Unterarm der jungen Frau eine lange Schnittwunde. Blut tropft zu Boden. Bald wird sich die Verschmelzung mit Mutter Gabriella nicht mehr rückgängig machen lassen.
»Wohin bringen sie uns? O Herr, wohin bringen sie uns?«
Der Exorzist treibt seine Fingernägel mit aller Kraft in Marias Handgelenk, damit sie ihn loslässt. Endlich öffnet sich ihre Hand. Er massiert sich die schmerzenden Finger, nimmt dann eine sterile Spritze aus ihrer Hülle und zieht sie mit einer anderen Flüssigkeit auf. Ein Gegenmittel. Es soll die junge Frau in einen Schockzustand versetzen, der sie zur Rückkehr zwingt. In ihrem abgemagerten Arm pochen und rollen die Venen. Carzo bindet ihn erneut ab und
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