Das Evangelium nach Satan
bekommen würden. Der zu Wählende werde ein rotes Taschentuch aus dem Ärmel ziehen und vor sich legen. Am Schluss der Mitteilung stand die Aufforderung, vor dem Gang ins Konklave den Umschlag samt Inhalt zu verbrennen. Außerdem wurde gedroht, dass man sämtliche Geiseln auf der Stelle töten werde, sollte sich herausstellen, dass auch nur ein einziger dieser Umschläge nicht vernichtet worden sei.
Den Kardinälen ist klar, dass die Herrschaft über den Vatikan in andere Hände übergehen wird. Eine solche Manipulation wäre ein hinreichender Grund, das Konklave für nichtig zu erklären und eine tiefe Krise in der Kirche auszulösen. Ein einziges Wort würde genügen, nur einer der Kardinäle müsste dazu die Hand heben. Doch niemand sagt etwas. Alle scheinen darauf zu warten, dass sich ein anderer vorwagt, um die Verschwörung aufzudecken. Man könnte auch annehmen, dass jeder im Stillen betet, niemand werde etwas sagen. So kommt es, dass die Prälaten jedes Mal die Augen niederschlagen, wenn sich ihre Blicke kreuzen. Sie empfinden Scham, und sie haben Angst.
Erneut steht der dienstälteste Kardinal auf. Er fragt, ob alle zur Wahl bereit seien oder ob den einen oder anderen noch Zweifel belasteten, über die man sprechen müsse. Camano lächelt unwillkürlich. Diese Formel ähnelt jener, die ein Priester spricht, unmittelbar, bevor er ein Paar für verheiratet erklärt. Wenn jemand etwas gegen diese Verbindung einzuwenden hat, möge er jetzt reden oder auf immer schweigen. Die Kardinäle sehen einander an. Jetzt müsste jemand den Mund auftun. Dann sehen sie die Schweißperlen auf den Schläfen des Dienstältesten, und sie begreifen, dass auch er seinen Umschlag erhalten hat. Er hat ebenfalls Angst und wird daher den Mund halten. Die Gesichter senken sich. Der dienstälteste Kardinal fordert alle, die zur Wahl bereit sind, auf, die Hand zu heben. Langsam heben sich einhundertachtzehn Arme zu den Fresken empor.
5
Der medizinische Leiter der Gemelli-Klinik und Leibarzt des verstorbenen Papstes sieht von seinen Akten auf, als er hört, wie sich die Glastür mit leisem Quietschen öffnet. Ein Prälat in schwarzer Soutane ist eingetreten. Er trägt eine Brille mit dicken Gläsern und hat eine Aktentasche in der Hand. Der Arzt bemüht sich um Gleichmut. Er weiß, warum der Mann gekommen ist und hatte schon früher mit seinem Kommen gerechnet, eigentlich den ganzen gestrigen Abend. Dann hatte er gehofft, dieser Besuch werde ihm erspart bleiben, doch jetzt muss er sich der Wirklichkeit stellen. Er wirft einen Blick auf die Uhr: vier Uhr fünfundvierzig. Kardinal Giovanni braucht noch mindestens eine Stunde, um die Unterlagen aus dem Safe des Kardinals Valdez in Sicherheit zu bringen. Die Zeit ist sehr knapp. Die Sache kann brenzlig werden.
Die Sohlen des Prälaten machen auf dem Teppichboden keinerlei Geräusch. Er bleibt stehen und wartet darauf, dass sich der Arzt, der erneut in seine Akten blickt, ihm zuwendet. Da es auf jede Sekunde ankommt, bedeutet er dem Eingetretenen, er möge noch ein wenig warten, und schreibt von Zeit zu Zeit etwas an den Rand der Seiten, die er zu lesen vorgibt. Schließlich sieht er zu dem Besucher auf. Er spürt, wie sich ihm die Kehle zuschnürt, als er dessen kalten Blick sieht.
»Sie wünschen?«
»Ich darf mich vorstellen: Monsignore Alois Mankel von der Glaubenskongregation.«
Der Arzt strafft sich kaum wahrnehmbar. Hinter der modernen Bezeichnung »Glaubenskongregation« verbirgt sich die seit dem Mittelalter bekannte Inquisition. Der Mann, der da vor ihm steht, ist also ein Inquisitor. Jemand, der Kenntnis von umfangreichen Akten hat und mit Geheimnissen vertraut ist. Außerdem ist er päpstlicher Protonotar mit dem Titel Monsignore – das entspricht einem Generalinquisitor des Mittelalters. Solche Leute neigen nicht dazu, unnötige Worte zu machen oder sich von ihrem Ziel ablenken zu lassen. Der medizinische Leiter der Gemelli-Klinik hatte mit dem Besuch eines höheren Prälaten oder schlimmstenfalls eines Mediziners aus dem Vatikan gerechnet – auf einen Inquisitor war er nicht gefasst. Die Entsendung dieses Mannes kann nur bedeuten, dass zumindest ein Teil der Glaubenskongregation ihre geistliche Heimat im Lager des Schwarzen Rauchs hat. Die Sache droht schwierig zu werden.
»Bedauerlicherweise sind Besucher erst ab acht Uhr zugelassen, Monsignore.«
Ein kaltes Lächeln tritt auf die Lippen des Prälaten.
»Ich bin gekommen, um mir einen Toten anzusehen. Ich denke
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