Das Exil Der Königin: Roman
schließlich doch tat.
»Du verlierst an Gewicht, Morley. Aber hier oben brauchst du diesen Schutz. Wenn wir weiterreisen, musst du mithalten können. Ich will nicht, dass du ohnmächtig wirst, nur weil du Hunger hast. Niemand wird dich tragen, auch dann nicht, wenn du nur noch aus Haut und Knochen bestehst.« Und so weiter und so fort.
Sie verlor also Gewicht, na und? Das wäre unter diesen Umständen jedem so ergangen.
Sie trainierten jeden Morgen. Gingen meilenweit in einem großen Kreis um das Lager herum, bei allen möglichen Witterungsverhältnissen. Jeden Tag bestimmte Amon jemanden, der mit Raisa Schwertkämpfe ausfocht, um an ihrer Haltung, ihrer Ausdauer und ihrer Form zu arbeiten. Alle wechselten sich dabei ab, bis auf Amon Byrne. Er wusste wahrscheinlich, wie ungleich die Voraussetzungen dabei sein würden.
Dennoch waren die Runden für sie immer entwürdigend. Und erschöpfend. Alle im Wolfsrudel hatten eine längere Reichweite als sie, konnten in sicherer Entfernung stehen und in aller Lockerheit Hiebe gegen sie führen und ihr mit der flachen Seite der Klinge einen Schlag versetzen, während sie sich unaufhörlich bewegte. Es war, als hätte sie acht große Brüder und Schwestern, die alle gemeinsam auf sie einhackten.
»Wenn du ein Kadett sein willst«, pflegte Amon zu sagen, »wirst du es mit Leuten zu tun haben, die fechten, seit sie einen Stock halten können.« Leute wie Amon, der immer gewusst hatte, dass er wie sein Vater Soldat werden würde.
Vielleicht ließ er sie deshalb so schwer arbeiten, damit sie ausgelaugt war und die Idee aufgab, sich unter den Kadetten von Wien House zu verstecken. Seine Idee war, dass sie in dem Tempelgelände blieb, wo sie sich mit den anderen Geweihten zurückziehen und Gärtnern und Heilen und Nadelarbeiten lernen konnte.
Die Gefahr, dass sie von irgendwelchen Studenten von zu Hause erkannt werden würde, war dort vermutlich geringer. Nur wenige Leute aus den Fells besuchten die Tempelschule von Odenford. Es gab bessere Schulen, die näher lagen.
Raisa wusste sehr gut, dass es riskant war, sich unter die anderen Studenten von Wien House zu mischen, aber sie war bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Sie hatte schließlich schon genug Zeit in einem Kloster verbracht. Jetzt wollte sie endlich die wirkliche Welt kennenlernen.
Raisa stellte ihren Becher auf einem Stein ab, schlang die Arme um ihre in Hosen steckenden Beine und ließ ihr Kinn auf die Knie sinken. Süße Hanalea in Ketten, sie war das alles hier so was von leid.
Hallie hielt Wache im Lager. Talia Abbott war auf Patrouille und hielt in einem Radius von drei Meilen Ausschau nach möglichem Ärger. Alle anderen kauerten in ihren Zelten. Abgesehen von Amon, der wie immer sonst wo war.
Amon benutzte den Namen Morley wie einen Stock, mit dem er sie von sich fernhielt. Mit dem er die Erinnerung an ihre gemeinsam verbrachte Kindheit geradezu zerschmetterte. Ja, ihre gemeinsame Kindheit, in der sie einander die Sätze beendet und sich mit ihren Fähigkeiten und Talenten gegenseitig unterstützt und verteidigt hatten.
Damals hatte Amon ihr beigebracht, sich in der körperlichen, rauen und wilden Welt außerhalb des Hofs zu behaupten. Er hatte ihr Fähigkeiten beigebracht, die von ihrer Mutter vernachlässigt worden waren – ohne Sattel zu reiten, mit dem Langbogen zu schießen, vom Pferderücken aus eine rohe und gefährliche Form von Fußball zu spielen. Er hatte ihr die Spiele der Wirtshäuser beigebracht – Knöchelchen-, Pfeilwurf-, Karten- und Würfelspiele.
Amon war wie ein Kanal gewesen, durch den jene Fähigkeiten, die er selbst von seinem Vater, seinen älteren Vettern und auf den Straßen von Fellsmarch gelernt hatte, zu Raisa gelangt waren. Sie hatten mit Übungsschwertern aus Holz trainiert. Er hatte ihr gezeigt, wie man ein Messer warf und eine echte Klinge schärfte. Als Raisa zwölf gewesen war, hatte er ihr beigebracht, wie man sich wehrte, wenn man auf der Straße angegriffen wurde.
Raisa hatte zu den Unternehmungen ihrer Kinderzeit ebenfalls etwas beisteuern können. Aufgrund ihres Rangs und ihrer Abstammung sprachen die Leute ihr eine Autorität zu, die sie nicht wirklich besessen hatte. Wenn Raisa sich ihnen entgegenstellte, konnte sie sich alles leisten.
Natürlich haben wir die Erlaubnis, allein auszureiten , pflegte sie dem Pferdeknecht mit keckem Selbstvertrauen zu sagen. Sattle Devil und Thunder. Ja, genau diese beiden. Ja, die Königin ist damit einverstanden.
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