Das Exil Der Königin: Roman
getroffen, wenn ich im Unterricht war.«
Micah leckte sich über die Lippen. »Vielleicht ziehst du irgendein perverses Vergnügen daraus, mich zu verfolgen, aber …«
»Ich will damit nur sagen, wenn ich wollte, dass du tot bist, wärst du jetzt schon ein Dutzend Mal gestorben. Ich habe dich am Leben gelassen, weil ich jetzt einen anderen Plan verfolge. Ihr Bayars müsst lernen, dass ihr nicht immer alles kriegen könnt, was ihr haben wollt. Ich werde es euch beibringen. Das hier ist erst der Anfang.«
Micah kniff die Augen noch enger zusammen. »Soll das eine Drohung sein?«
»Absolut.« Han lächelte. »Wann immer du einen Kampf anfängst, solltest du wissen, gegen wen du ihn führst.« Er stand auf. »Wir sehen uns.«
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
Hochzeit oder Todesfall
E s war ein grauer und düsterer Donnerstag – wenn auch wärmer und feuchter, als es für April eigentlich üblich war. Raisas Unterricht war für diesen Tag beendet, aber ihr war noch nicht danach, zurück nach Grindell House zu gehen und Amons Blicke ertragen zu müssen. Er war schon seit Tagen unruhig gewesen, schon vor der Sache mit Han.
»Was ist los mit dir?«, hatte sie ihn am Abend zuvor auf dem Paradeplatz gefragt. »Ich habe dich noch nie so nervös erlebt.«
»Ich habe das Gefühl, dass du in Gefahr bist«, antwortete Amon. »Und ich kann dieses Gefühl nicht abschütteln.«
»Hat es mit Han Alister zu tun?« Raisa machte eine Pause, während sie den Stock quer vor ihren Körper hielt.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Jedenfalls nicht direkt. Ich habe dieses Gefühl, seit Hallie wieder da ist. Als würde etwas Schlimmes passieren.« Er veränderte seinen Griff und schloss seine Hände behutsam um den Stock. »Ich habe gelernt, diese Instinkte ernst zu nehmen. Sei bitte vorsichtig, Rai.«
Sie hatte daran gedacht, Amon den Brief von Königin Marianna zu zeigen, und sich dann dagegen entschieden. Hatte Amons Besorgnis womöglich damit zu tun? Konnte er spüren, wie unruhig sie war und wie sehr es sie verlockte, nach Hause zurückzukehren?
Und nebenbei war sie auch noch mitten im Lernstress für die Prüfungen und musste die Entscheidung fällen, was sie beim Kadettenball tragen würde. Die weiblichen Kadetten konnten entweder ihre Uniformen anziehen oder Kleider. Die Uniform wäre die einfachste Lösung gewesen, aber Raisa hatte Angst, dass sie für irgendeinen jungenhaften Junker gehalten werden würde, dem man erlaubt hatte, etwas länger aufzubleiben.
Manchmal vermisste sie es tatsächlich, sich hübsch zurechtmachen zu können.
Dennoch war es vermutlich zu spät, um noch eine Schneiderin anzuheuern, und auch unwahrscheinlich, dass sie in irgendeinem Gebrauchtwarenladen an der Brückenstraße etwas Passendes für sich finden würde.
Doch heute Abend würde sie Han wiedersehen. Ihr Herz schlug schneller. Sie hatte eine Nachricht nach Hampton House geschickt.
Han, ich möchte mich dafür entschuldigen, dass unser Abend so abrupt geendet hat. Er war bis dahin wunderbar. AB entschuldigt sich auch. Nun, das ist nicht ganz wahr, aber ich entschuldige mich für ihn. Ich freue mich auf Donnerstag, und auf den Tanz. – Rebecca
Es war keine Antwort gekommen.
Vielleicht sollte ich erst mal abwarten, ob er heute Abend zum Unterricht kommt, bevor ich mich um ein Kleid kümmere, dachte Raisa verdrießlich. Sie war versucht, über die Brücke zu gehen und Han in seinem Wohnheim aufzusuchen, aber das konnte in vielerlei Hinsicht übel enden.
Amons Nervosität war ansteckend, und Raisa stellte fest, dass sie selbst immer wieder einen Blick über die Schulter warf und im Nacken ein seltsames Prickeln verspürte, als würde sie beobachtet werden. Graue Wölfe versammelten sich im Kolleghof, die Ohren dicht an die Köpfe angelegt, und ihr klagendes Geheul wollte gar kein Ende mehr nehmen.
Schließlich zog sie sich in einen Leseraum im oberen Stock der Bibliothek von Wien House zurück und versuchte zu lernen. Aber Han Alister schlich sich immer wieder in ihre Gedanken. Und Amon Byrne. Und Marianna, ihre Mutter. In dem einen Moment entschied sie, gleich nach den Prüfungen nach Hause zurückzukehren, und im nächsten machte sie sich Sorgen, dass ihre Rückkehr in die Fells eine Krise auslösen könnte. Sie las den gleichen Paragraphen immer und immer wieder, bis sie mit dem Kopf auf den Armen einschlief.
»Neuling Morley?«
Raisa sah auf und fand einen nervös aussehenden Kadetten in der Tür stehen. Sie blinzelte ihn benommen an.
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