Das Experiment
herbstlicher Klarheit. Hier und dort zeigten die Bäume schon erste Anzeichen ihrer herbstlichen Farbenpracht.
Am Sonntag einen Parkplatz zu finden war kein Problem, so daß Kim ihren Wagen ganz nahe bei Kinnards Apartment an der Revere Street abstellen konnte. Als sie klingelte, war sie nervös, aber er vermittelte ihr sofort das Gefühl, willkommen zu sein, und half ihr, ihre Sachen in das Gästezimmer zu tragen, das er inzwischen aufgeräumt und saubergemacht hatte.
Sie verbrachten einen wunderbaren Nachmittag, der Kim für ein paar Stunden Omni, Ultra und Elizabeth völlig vergessen ließ. Ihr Ausflug begann am North End, wo sie in einem italienischen Restaurant zu Mittag aßen; anschließend tranken sie in einem kleinen Café einen Espresso.
Sie bummelten durch Filene’s Basement, und Kim kaufte einen hübschen Rock, der ursprünglich von Saks Fifth Avenue stammte.
Danach schlenderten sie durch die Boston Gardens und erfreuten sich am bunten Herbstlaub und an den Blumen. Sie saßen eine Weile auf einer Parkbank und sahen den Schwanenbooten zu, die über den See glitten.
»Ich sollte das wahrscheinlich nicht sagen«, meinte Kinnard, »aber du machst einen etwas müden Eindruck.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Kim. »Ich habe in letzter Zeit nicht sehr gut geschlafen. Das Leben in Salem war nicht gerade idyllisch.«
»Gibt es etwas, worüber du gern reden würdest?« erkundigte sich Kinnard.
»Im Augenblick nicht«, wehrte Kim ab. »Ich bin ziemlich durcheinander und muß erst selbst mit mir klarkommen.«
»Ich bin wirklich froh, daß du zu mir gekommen bist«, sagte Kinnard.
»Ich möchte aber keinen Zweifel daran lassen, daß ich im Gästezimmer schlafen werde«, sagte Kim schnell.
»He, keine Panik«, sagte Kinnard und hob abwehrend beide Hände. »Das versteh’ ich doch. Wir sind Freunde, hast du das vergessen?«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Kim. »Wahrscheinlich komme ich dir ein wenig hysterisch vor. Dabei war ich seit Wochen nicht mehr so entspannt wie jetzt.« Sie griff nach Kinnards Hand und drückte sie. »Vielen Dank, es ist schön, dich zum Freund zu haben.«
Nachdem sie sich eine Weile im Park ausgeruht hatten, bummelten sie noch ein bißchen durch die Stadt, kauften ein paar Bücher und gingen am späten Nachmittag in ein indisches Restaurant. Nach einem köstlichen Tandoori-Dinner beschlossen sie, den Tag bei Kinnard ausklingen zu lassen. Auf seiner Couch sitzend, jeder mit einem Glas Weißwein versorgt, spürte Kim bald, wie sie müde wurde.
Sie ging früh schlafen, weil sie am nächsten Tag schon bei Tagesanbruch aufstehen mußte. Als sie sich in Kinnards frisch gemachtes Gästebett legte, brauchte sie kein Xanax, sondern sank sofort in tiefen, wohltuenden Schlaf.
Kapitel 19
Montag, 3. Oktober 1994
Kim hatte beinahe vergessen, wie anstrengend ein ganz normaler Tag in der Intensivstation sein konnte. Sie hätte ohne Zögern zugegeben, daß sie nach einem Monat Ferien weder körperlich noch emotional das notwendige Stehvermögen besaß und völlig außer Form geraten war. Aber als ihre Schicht zu Ende ging, mußte sie zugeben, daß sie die stetige Herausforderung und das Gefühl, Menschen helfen zur können, genossen hatte, ganz zu schweigen von dem belebenden Gefühl, einer Gruppe anzugehören, die gemeinsam etwas leisteten.
Kinnard war im Laufe des Tages einige Male mit Patienten aus der chirurgischen Station aufgetaucht, und Kim hatte sich bemüht, ihm zu helfen. Er hatte ihr angeboten, auch diese Nacht bei ihm zu verbringen, obwohl er selbst Bereitschaftsdienst hatte und die Nacht im Krankenhaus verbringen mußte.
Kim wäre gern geblieben. Aber sie wußte, daß sie wieder nach Salem mußte. Dabei machte sie sich keinerlei Illusionen, daß Edward für sie Zeit haben würde.
Als Kims Schicht zu Ende war, ging sie zur Station an der Ecke Charles und Cambridge Street und nahm die Red Line zum Harvard Square. Um diese Zeit verkehrten die Züge in dichter Folge, und so war sie zwanzig Minuten später bereits auf der Massachusetts Avenue in nordwestlicher Richtung zur juristischen Fakultät von Harvard unterwegs.
Es war ein heißer Spätsommertag ohne die kristallene Klarheit des gestrigen Tages. Kein Lüftchen wehte, und man hatte eher das Gefühl, es sei Sommer als Herbst. Im Wetterbericht war vor heftigen Gewittern gewarnt worden.
Kim ließ sich von einem Studenten den Weg zur juristischen Bibliothek erklären. Helen Arnolds Büro zu finden war nicht
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