Das Experiment
in der Hoffnung,im Laufe des Tages die schlimmen Ereignisse vergessen zu können, was ihr allerdings nur teilweise gelang. Für das Schreckliche, das sie in der Nacht in ihrem ohnehin labilen Zustand erlebt hatte, war das einfache Beruhigungsmittel zu schwach. Kim brauchte menschlichen Kontakt und wurde sich plötzlich bewußt, wie sehr sie doch die Bequemlichkeit und das soziale Umfeld der Stadt vermißte.
Sie setzte sich ans Telefon und versuchte einige ihrer Freunde und Freundinnen in Boston anzurufen, hatte aber nicht viel Glück. Sie erreichte nur Anrufbeantworter und hinterließ auch auf einigen ihre Nummer, rechnete aber nicht damit, daß vor dem Abend jemand zurückrufen würde. Ihre Freunde waren aktive Leute, und an einem Herbstsonntag in Boston gab es viel zu erleben.
Von dem starken Drang erfüllt, das Gelände zu verlassen, wählte Kim Kinnards Nummer. Während die Verbindung aufgebaut wurde, hoffte sie fast, daß er sich nicht melden würde; weil sie nämlich eigentlich gar nicht wußte, was sie zu ihm sagen würde. Beim zweiten Klingeln hob er ab.
Sie tauschten Freundlichkeiten aus, und Kim versuchte ihre Nervosität zu verbergen, was ihr aber nicht sehr gut gelang.
»Und du bist ganz sicher, daß bei dir alles in Ordnung ist?« fragte Kinnard nach einer kurzen Pause. »Du klingst so eigenartig.«
Kim suchte nach einer beruhigenden Antwort, aber ihr fiel keine ein. Sie war konfus, verlegen und wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Kim, kann ich dir irgendwie helfen? Ist etwas passiert?«
Kim atmete tief durch. »Du kannst mir helfen«, sagte sie schließlich. »Ich muß hier weg. Ich habe ein paar Freundinnen zu erreichen versucht, aber keine ist zu Hause. Ich hatte vorgehabt, in die Stadt zu fahren und dort zu übernachten, weil ich morgen wieder arbeiten muß.«
»Warum kommst du nicht hierher?« fragte Kinnard. »Ich muß nur mein Fahrrad und ein paar tausend Hefte New England Journal of Mediane aus dem Gästezimmer räumen, dann kannst du es haben. Außerdem habe ich heute frei. Wir könnten etwas unternehmen.«
»Bist du ehrlich der Meinung, daß das eine gute Idee ist?«
»Ich werde mich benehmen, falls du dir deshalb Sorgen machst«, sagte Kinnard und lachte.
Kim fragte sich, ob sie sich in Wirklichkeit nicht größere Sorgen wegen ihres eigenen Benehmens machte.
»Jetzt komm schon«, ermunterte sie Kinnard. »Ich habe wirklich das Gefühl, daß es dir guttun wird, einmal rauszukommen.«
»Also gut«, erklärte Kim plötzlich entschlossen.
»Großartig!« freute sich Kinnard. »Wann kommst du?«
»In einer Stunde?« sagte Kim fragend.
»Fein, also bis dann.«
Kim legte auf. Sie wußte nicht genau, was sie eigentlich vorhatte, hatte aber das Gefühl, das Richtige zu tun. Sie stand auf, stieg die Treppe hinauf und packte ein paar Sachen zusammen, vergaß auch ihre Schwesterntracht nicht. Sie füllte Shebas Napf und reinigte das Katzenklo an der Hintertür.
Nachdem sie alles Nötige erledigt hatte, fuhr Kim zum Labor hinüber. Ehe sie das Gebäude betrat, blieb sie kurz stehen und überlegte, ob sie ausdrücklich erwähnen sollte, daß sie bei Kinnard übernachten würde. Sie beschloß, es Edward zu sagen, falls er fragen würde.
Die Atmosphäre im Labor wirkte noch angespannter als bei ihrem letzten Besuch. Alle waren auf ihre Arbeit konzentriert, nahmen ihre Anwesenheit zwar zur Kenntnis und begrüßten sie auch, aber nur beiläufig.
Kim war das gerade recht. Edward lächelte sie an, aber es war ein mechanisches, flüchtiges Lächeln.
»Ich fahre einen Tag nach Boston«, verkündete Kim vergnügt.
»Gut«, nickte Edward.
»Ich werde dort übernachten. Wenn du willst, hinterlasse ich dir eine Nummer, wo du mich erreichen kannst.«
»Das ist nicht nötig«, meinte Edward. »Wenn es ein Problem gibt, kannst du mich ja anrufen. Ich bin hier.«
Kim verabschiedete sich und ging. Als Edward ihr nachrief, blieb sie stehen.
»Tut mir wirklich leid, daß ich so wenig Zeit für dich habe«, sagte er. »Ich wünschte, wir hätten nicht soviel zu tun. Aber es gibt hier eine Art Notfall.«
»Ich verstehe«, sagte Kim und sah Edward an. Er wirkte verlegen, etwas, was sie schon lange nicht mehr an ihm gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, bis sich bei Kim eine gewisse Entspannung einstellte, und je weiter sie nach Süden kam, um so besserfühlte sie sich. Auch das Wetter leistete seinen Beitrag. Es war ein heißer Spätsommertag, die Sonne schien hell, und der Himmel leuchtete in
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