Das Experiment
seine Mutter in betrügerischer Absicht dazu gebracht, ihr Testament zu ändern, wodurch er selbst um sein rechtmäßiges Erbe gebracht worden sei. Offenbar war das Gericht jedoch anderer Auffassung gewesen. Im Ergebnis hatte Ronald jedenfalls etliche tausend Pfund geerbt, was in der damaligen Zeit ein gehöriges Sümmchen gewesen sein mußte.
Wie Kim überrascht feststellte, schien sich das Leben im späten siebzehnten Jahrhundert nicht so stark von dem heutigen Leben unterschieden zu haben. Eigentlich hatte sie immer geglaubt, daß zumindest die Rechtsangelegenheiten damals viel einfacher abgewickelt worden wären. Doch nachdem sie diese Testamentsklage studiert hatte, war sie eines Besseren belehrt. Sie fragte sich ein weiteres Mal, was Ronald wohl für ein Mensch gewesen war.
Das nächste Schriftstück schien ihr auf den ersten Blick noch kurioser. Es war ein Vertrag zwischen Ronald Stewart und Elizabeth Flanagan, der auf den 11. Februar 1681 datiert war. Er war also noch vor der Eheschließung der beiden aufgesetzt worden und erinnerte Kim spontan an einen modernen vorehelichen Vertrag. Doch in dem Dokument ging es gar nicht um Geld oderEigentum. Der Vertrag billigte Elizabeth lediglich das Recht zu, auch nach der Eheschließung in eigenem Namen Verträge schließen und Grundeigentum besitzen zu dürfen.
Kim las den Vertrag durch, an dessen Ende Ronald eine handschriftliche Erklärung angefügt hatte. Kim erkannte die graziöse Handschrift sofort wieder; es war die gleiche Schrift, in der auch die meisten Seefrachtbriefe abgefaßt worden waren, die sie in der Burg aufgestöbert hatte. Ronald hatte geschrieben: »Es ist mein Wunsch, daß meiner Verlobten, Elizabeth Flanagan, das Recht zugebilligt wird, all unsere gemeinsamen Angelegenheiten zu verwalten und nötigenfalls auch die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, wenn mich meine Kaufmannstätigkeit dazu zwingt, für längere Zeit von der Maritime Ltd und von Salem Town abwesend zu sein.«
Kim las den Vertrag noch einmal durch, um sicherzugehen, daß sie auch alles richtig verstanden hatte. Sie war verblüfft. Die Tatsache, daß ein solcher Vertrag offensichtlich notwendig gewesen war, damit Elizabeth Verträge unterzeichnen durfte, rief ihr in Erinnerung, daß die Frauen im puritanischen Zeitalter nicht gerade viel zu melden gehabt hatten. Ihre Rechte waren auf ein Minimum begrenzt gewesen. Diese Botschaft hatte sie ja auch schon dem Brief von Elizabeths Vater an Ronald entnommen.
Kim legte den Vertrag beiseite und sah die übrigen Papiere durch, die sich in der Aktenmappe über Ronald Stewart befanden. Zunächst stieß sie auf weitere Klagen, mit denen Ronald seinen säumigen Kunden zu Leibe gerückt war, doch dann entdeckte sie ein wirklich interessantes Dokument. Es war ein von Ronald Stewart unterzeichneter Antrag auf die Erhebung einer Herausgabeklage. Datiert war der Antrag auf Dienstag, 26. Juli 1692 – genau eine Woche nach Elizabeths Todestag.
Kim hatte keine Ahnung, was eine Herausgabeklage war, doch nachdem sie ein bißchen weitergelesen hatte, wußte sie schon mehr. Ronald hatte geschrieben: »Ich bitte das Gericht unterwürfigst, mir in Gottes Namen das sogenannte offenkundige Beweisstück zurückzugeben, welches Sheriff George Corwin in unserem Haus beschlagnahmt und während der Verhandlung vor dem Court of Oyer and Terminer am 20. Juni 1692 im Zusammenhang mit der wegen Hexerei gegen Elizabeth erhobenen Anklage verwendet hat.«
An der Rückseite des Antrags war eine Entscheidung vom 3. August 1692 angeheftet worden, in der Richter John Hathorne es abgelehnt hatte, die Beschlagnahme aufzuheben und das Beweisstück herauszugeben. In seiner Ablehnung hatte der Richter geschrieben: »Das Gericht empfiehlt dem Antragsteller Ronald Stewart, seinen Antrag auf Herausgabe des erwähnten Beweisstücks erneut gegenüber seiner Exzellenz dem Gouverneur des Commonwealth zu stellen, da die Verantwortung über die Aufbewahrung des besagten Beweisstücks gemäß dem Durchführungsbefehl nicht mehr dem Essex County, sondern dem Suffolk County obliegt.«
Kim stellte zufrieden fest, daß sie jetzt endlich einen indirekten Hinweis dafür gefunden hatte, was mit Elizabeth geschehen war: Man hatte Anklage gegen sie erhoben, und sie war offenbar tatsächlich verurteilt worden. Gleichzeitig mußte sie aber enttäuscht zur Kenntnis nehmen, daß nirgendwo etwas Genaueres über das »offenkundige Beweisstück« gesagt wurde. Sie studierte sowohl den Antrag
Weitere Kostenlose Bücher