Das Experiment
als auch die Entscheidung noch einmal mit aller Sorgfalt und hoffte, daß sie vielleicht etwas übersehen hatte. Doch sie hatte nichts übersehen. Das Beweisstück wurde definitiv nicht näher beschrieben.
Kim blieb noch ein paar Minuten sitzen und überlegte, um was für ein Beweisstück es sich wohl gehandelt haben mochte. Sie dachte an die vage Äußerung ihres Vaters und kam zu dem Schluß, daß es vermutlich etwas mit Okkultismus zu tun gehabt hatte. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie warf noch einmal einen Blick auf den Antrag und schrieb sich das Datum der Gerichtsverhandlung auf. Mit diesem Zettel ging sie an den Schalter und bat die Beamtin noch einmal um Hilfe.
»Könnte ich vielleicht auch kurz die Gerichtsakten des Court of Oyer and Terminer vom 20. Juni 1692 einsehen?«
Die Frau begann lauthals zu lachen und hörte auch nicht auf, als Kim ihre Bitte noch einmal wiederholte. Verwirrt fragte sie, was denn an ihrer Frage so komisch sei.
»Sie wollen genau das, was hier jeder haben will«, erwiderte die Angestellte. Ihr Slang ließ vermuten, daß sie aus dem Hinterland von Maine stammte. »Das Problem ist nur, daß diese Akten nicht existieren. Ich wünschte, es gäbe sie, aber Sie werden sie nirgends finden. Über die Hexenprozesse vor dem Court ofOyer and Terminer gibt es keine Protokolle. Das einzige, was noch vorhanden ist, sind hier und da ein paar schriftliche Zeugenaussagen; die Gerichtsakten selbst müssen sich irgendwann allesamt in Luft aufgelöst haben.«
»Wie schade«, entgegnete Kim. »Aber vielleicht können Sie mir etwas anderes sagen. Wissen Sie, was genau unter dem Begriff offenkundiges Beweisstück zu verstehen ist?«
»Ich bin keine Juristin«, erwiderte die Frau. »Aber warten Sie einen Moment. Ich frage eine Kollegin.«
Sie verschwand in ein anderes Büro und kam kurz darauf mit einer stämmigen Person im Schlepptau zurück. Die andere Frau hatte eine Brille mit riesigen Gläsern auf ihrer kurzen, breiten Nase.
»Sie wollen wissen, was ein ›offenkundiges Beweisstück‹ ist?« fragte sie.
Kim nickte.
»Eigentlich sagt es ja schon das Wort selbst«, erklärte die Frau. »Man meint damit Beweismaterial, das unwiderlegbar ist. Mit anderen Worten – es geht um Beweisstücke, die eindeutig sind und sich nur auf eine einzige Art interpretieren lassen.«
»Genau das habe ich mir gedacht«, stellte Kim fest und bedankte sich. Sie holte sich die Unterlagen und kopierte den Antrag auf die Erhebung einer Herausgabeklage sowie die ablehnende Entscheidung des Gerichts. Dann gab sie die Dokumente wieder zurück.
Als sie dann endlich zu ihrem Anwesen hinausfuhr, hatte sie leichte Gewissensbisse. Sie hatte Mark Stevens angekündigt, daß sie morgens kommen würde, und nun war es beinahe Mittag. Als sie die letzte Biegung hinter dem Tor genommen hatte und aus dem Wald herausfuhr, sah sie neben ihrem Häuschen mehrere Kleinlaster und Lieferwagen stehen. Als sie genauer hinsah, registrierte sie auch einen kleinen Bagger und Berge von frisch ausgehobener Erde. Doch nirgendwo waren Arbeiter zu sehen – nicht einmal der Bagger war besetzt.
Sie parkte und stieg aus. Die schwüle Mittagshitze und der herumwirbelnde Staub waren schier unerträglich. Kim schlug die Autotür zu und hielt sich zum Schutz vor der Sonne die Hand über die Augen. Dann fixierte sie die Linie des Grabens, der quer über das Feld in Richtung Burg verlief. In diesem Augenblick ging die Tür ihres Hauses auf, und George Harris kam auf sie zu. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
»Schön, daß Sie kommen konnten«, begrüßte er sie. »Ich habe schon versucht, Sie anzurufen.«
»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Kim.
»Kann man so sagen«, erwiderte George ausweichend. »Am besten kommen Sie mal mit, ich zeig’s Ihnen.«
Er forderte sie mit einem Handzeichen auf, ihm zum Bagger zu folgen.
»Wir mußten die Arbeit unterbrechen«, erklärte George.
»Warum denn?« wollte Kim wissen.
George gab darauf keine Antwort. Statt dessen gab er ihr mit einem weiteren Wink zu verstehen, daß sie ihm zum Graben folgen solle.
Da sie Angst hatte einzubrechen, trat Kim vorsichtig näher und beugte sich vor, um etwas zu sehen; der Graben war mindestens zweieinhalb Meter tief. Aus den Seitenwänden ragten Wurzeln, die wie kleine Bürsten aussahen. George zeigte auf eine Stelle, an der der Graben abrupt endete – von dort bis zum Cottage waren es vielleicht fünfzehn Meter. Kim sah, daß fast am Grunde des Grabens das
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