Das Experiment
Eltern. Als sie in ihr Auto stieg, empfand sie eine Mischung aus Mitleid, Wut und Abscheu für die Art, in der ihre Eltern zusammenlebten. Sie ließ den Motor an und schwor sich, niemals selbst eine solche Ehe zu führen.
Kim verließ die Einfahrt und bog in die Straße ein, die nach Salem führte. Während der Fahrt rief sie sich in Erinnerung, daß sie trotz ihrer Aversion gegen das Eheleben ihrer Eltern Gefahr lief, sich selbst in eine ähnliche Situation zu bringen. Daß sie so heftig auf Kinnards Wunsch reagiert hatte – der lieber mit seinen Kollegen angeln gehen wollte, als das Wochenende wie geplant mit ihr zu verbringen –, war zum Teil sicher auf die deprimierende Beziehung ihrer Eltern zurückzuführen.
Plötzlich lächelte Kim, und all ihre trüben Gedanken warenwie weggeblasen. Sie hatte gerade an die Blumen gedacht, die Edward ihr jeden Tag geschickt hatte. In gewisser Weise war es ihr zwar peinlich, andererseits bewies diese Geste aber auch, wie zuvorkommend und liebevoll Edward war. Jedenfalls war sie sich ziemlich sicher, daß er kein Casanova war.
Die frustrierende Unterhaltung mit ihrem Vater hatte bei Kim genau das Gegenteil dessen bewirkt, was dieser eigentlich bezweckt hatte. Ihr Interesse an Elizabeths Schicksal war größer denn je. Als sie in Salem ankam, machte sie einen kleinen Umweg ins Zentrum und stellte ihr Auto ab.
Vom Parkhaus ging sie zum Peabody-Essex-Institut hinüber, einem kulturhistorischen Verein, der in mehreren restaurierten Häusern im Zentrum der Stadt residierte. Der Verein kümmerte sich um die Stadtgeschichte und archivierte alte Dokumente aus Salem und Umgebung, also auch Dokumente über die Hexenprozesse.
Kim zahlte am Eingang ihre Benutzergebühr und ließ sich von der Rezeptionistin den Weg zur Bibliothek zeigen. Sie stieg gegenüber der Empfangstheke eine kleine Treppe empor und öffnete eine schwere Tür. Das Gebäude stammte aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert und hatte hohe Stuckdecken und dunkle Holzzierleisten. Im Hauptraum gab es mehrere Kamine aus Marmor, an den Decken hingen Kronleuchter, und überall standen dunkel gebeizte Eichentische mit dazu passenden Stühlen. Der Geruch von alten Büchern erfüllte den Raum, und es war mucksmäuschenstill.
Eine freundliche, hilfsbereite Bibliothekarin namens Grace Meehan eilte Kim sofort zu Hilfe. Sie war eine ältere Frau mit grauen Haaren und einem netten Gesicht. Nachdem Kim gefragt hatte, wo sie Informationen über die Hexenprozesse von Salem finden könne, führte Grace sie zu den Regalen, in denen sich die alten Dokumente befanden. Kim war überrascht. Die schriftlich niedergelegten Anschuldigungen von damals, die Strafanzeigen, die Haftbefehle, die Zeugenaussagen, die Anhörungsprotokolle, die Haftanweisungen, die Hinrichtungsbefehle – alles war vorhanden. Jedes einzelne Dokument war sorgfältig archiviert und in die veraltete Zettelkartei der Bibliothek aufgenommen worden.
Nicht im Traum hatte Kim damit gerechnet, eine solche Fülle von Informationen zu finden, die sie ohne Schwierigkeiten benutzen konnte. Ihr wurde klar, warum so viele Historiker über die Hexenprozesse von Salem geschrieben hatten. Für Forscher mußte das Institut eine unerschöpfliche Fundgrube sein.
Sie war ziemlich aufgeregt und suchte zunächst nach dem Namen Elizabeth Stewart. Doch ihre Hoffnung, ihn hier vielleicht irgendwo zu entdecken, wurde schnell enttäuscht. Weder war eine Elizabeth Stewart verzeichnet, noch wurde der Name Stewart in der Kartei überhaupt erwähnt.
Kim wandte sich noch einmal an die Bibliothekarin und fragte, ob ihr der Name Elizabeth Stewart vielleicht ein Begriff sei.
»Nein«, erwiderte Grace. »Der Name ist mir nicht geläufig. Wissen Sie, was diese Frau mit den Hexenprozessen zu tun gehabt haben soll?«
»Soviel ich weiß, war sie eine der Verurteilten«, erklärte Kim. »Sie soll gehängt worden sein.«
»Das kann nicht sein«, widersprach Grace, ohne zu zögern. »Ich kann, glaube ich, von mir behaupten, daß ich die vorhandenen Unterlagen über die Hexenprozesse in- und auswendig kenne. Aber der Name Elizabeth Stewart ist mir noch nie untergekommen; über eine Elizabeth Stewart existieren keine Zeugenaussagen, und sie gehörte auf gar keinen Fall zu den zwanzig Opfern. Wie kommen Sie darauf, daß sie als Hexe hingerichtet worden sein soll?«
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Kim ausweichend.
»Auf jeden Fall stimmt sie nicht«, betonte Grace noch einmal mit Nachdruck.
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