Das Experiment
amourösen Abenteuer ihres Vaters und hielt es für möglich, daß Ronald genauso geartet gewesen war. Sie fragte sich, ob Ronald wohl schon eine Affäre mit Elizabeth gehabt hatte, als er noch mit Hannah verheiratet gewesen war, und ob er schon mit Rebecca angebändelt hatte, als er noch mit Elizabeth zusammen gewesen war. Immerhin stand fest, daß Elizabeth unter ungewöhnlichen Umständen ums Leben gekommen war. Kim überlegte, woran Hannah wohl gestorben sein mochte.
Doch dann schüttelte sie den Kopf und mußte über sich selbst lachen. Sie hatte zu viele Seifenopern gesehen, so daß jetzt die Phantasie mit ihr durchging; offenbar neigte sie dazu, nur noch in melodramatischen Dimensionen zu denken.
Nachdem Kim sich noch ein paar Minuten mit dem Stammbaum der Familie Stewart beschäftigt hatte, waren ihr zwei weitere Dinge klar. Zum einen wußte sie nun, daß sie selbst zu jenem Familienzweig gehörte, der auf Ronalds und Elizabeths Sohn Jonathan zurückzuführen war. Und zum anderen war ihr aufgefallen, daß der Name Elizabeth in der dreihundertjährigenFamiliengeschichte nie wieder auftauchte. Bei so vielen Generationen von Stewarts konnte das kein Zufall sein. Ihre Vorfahren mußten den Namen Elizabeth bewußt vermieden haben, und Kim konnte sich immer weniger vorstellen, was die arme Frau Schlimmes getan haben sollte, daß man sogar ihren Namen innerhalb der Familie verboten hatte.
Kim verließ das Peabody-Essex-Institut und wollte zu ihrem Auto gehen, um zu dem Stewartschen Anwesen hinauszufahren; doch als sie die unterste Stufe der Treppe erreicht hatte, hielt sie inne. Als sie darüber gegrübelt hatte, was Ronald wohl für ein Mensch gewesen sein mochte, war ihr unter anderem durch den Kopf gegangen, daß er Elizabeth auch umgebracht haben könnte, und das brachte sie jetzt auf eine neue Idee. Sie ging noch einmal zurück und fragte nach dem Weg zum Gerichtsgebäude des Essex County.
Das Haus lag an der Federal Street, ganz in der Nähe des berühmten Hexenhauses. Es war ein streng an der griechischen Architektur orientiertes Renaissancegebäude mit einem schlichten Giebeldreieck und massiven dorischen Säulen. Kim betrat den Justiztempel und fragte am Empfang, wo die Gerichtsakten aufbewahrt wurden.
Sie hatte keine Ahnung, ob sie wirklich irgend etwas finden würde. Sie wußte nicht einmal, ob Gerichtsakten überhaupt so lange aufbewahrt wurden oder ob sie, wenn sie tatsächlich noch existieren sollten, öffentlich zugänglich waren. Nichtsdestoweniger wandte sie sich an die zuständige Beamtin und fragte, ob sie die Akten über Ronald Stewart einsehen dürfe. Sie fügte noch hinzu, daß sie von jenem Ronald Stewart spreche, der 1653 geboren war.
Das Alter der schläfrig wirkenden Frau hinter dem Schalter war schwer zu schätzen. Falls Kim sie mit ihrer Bitte überrascht hatte, so ließ sie sich das zumindest nicht anmerken. Sie gab den Namen in ihren Computer ein, warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm und verließ dann den Raum. Sie hatte noch kein einziges Wort gesagt. Sicher erkundigten sich so viele Leute nach den Hexenprozessen von Salem, daß die städtischen Angestellten inzwischen völlig abgestumpft waren, wenn es um Anfragen aus jener Epoche ging.
Kim sah ungeduldig auf ihre Uhr. Es war schon halb elf, und sie hätte eigentlich längst bei ihrem Häuschen sein wollen.
Die Frau kam mit einer Urkundenmappe zurück. Sie reichte Kim die alte Akte und sagte: »Sie dürfen die Mappe nur hier in diesem Raum einsehen.« Sie zeigte auf die gegenüberliegende Zimmerseite, wo ein paar Tische und Plastikstühle standen. »Sie können da drüben Platz nehmen.«
Kim nahm die Mappe und suchte sich einen freien Stuhl. Dann klappte sie den Aktendeckel auf; ein dicker Stapel mit Schriftstücken kam zum Vorschein, die alle in einer mehr oder weniger gut leserlichen Handschrift verfaßt waren.
Zunächst fand Kim nur jede Menge Papiere über irgendwelche Zivilklagen, die Ronald damals erhoben hatte, um seine Außenstände einzutreiben. Doch dann stieß sie auch auf interessantere Dokumente, zum Beispiel auf die Anfechtung eines Testaments, das etwas mit Ronald zu tun zu haben schien.
Kim studierte den Schriftsatz gründlich. Ein gewisser Jacob Cheever hatte ein Testament angefochten, doch das Gericht hatte eine Entscheidung zu Ronalds Gunsten gefällt. Kim las, daß Jacob ein Kind aus Hannahs erster Ehe gewesen war; Hannah war wesentlich älter gewesen als Ronald. Jacob hatte ausgesagt, Ronald habe
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