Das Experiment
vor, wie ihre Mutter über das glänzende Parkett im ersten Stockwerk ging.
„Ja, ich habe es“, sagte Edna wenig später.
Schwester Mary atmete erleichtert auf. „Okay, sehr gut. Jetzt such bitte nach unserem Klassenfoto. Auf der Seite gibt es rechts unten ein kleineres Foto.“
„Augenblick“, murmelte Edna. „Ich muss eben den Hörer weglegen.“
Schwester Mary warf einen Blick auf die Wanduhr über der Bürotür und schickte ein rasches Stoßgebet in Richtung Himmel.
„Ja, hier ist es“, ließ Edna sie wissen. „Ach, ich hatte völlig vergessen, wie süß ihr damals ausgesehen hattet. Du und dieses Shapiro-Mädchen wart ja unzertrennlich. Arbeitet sie nicht heute für eine Zeitung?“
Schwester Mary atmete tief durch und zwang sich, Ruhe zu bewahren, obwohl sie ihre Mutter am liebsten angeschrien hätte, sie solle aufhören zu reden. Menschen starben, und sie musste wissen, aus welchem Grund das geschah.
„Ja, sie ist Reporterin für eine Zeitung in St. Louis“, antwortete sie. „Ich habe zu Weihnachten von ihr eine Karte bekommen. Könntest du mir bitte die Namen der Mädchen vorlesen, die mit mir in dieser speziellen Klasse waren?“
„Meinst du das kleine Foto, unterhalb des Fotos von der ganzen Klasse?“
„Ja. Bitte, Mutter, ich bin in Eile.“
„Okay, pass auf. Hast du was zum Schreiben?“ „Mutter … bitte … lies sie einfach vor.“
„Mal sehen. Emily Patterson, Josephine Henley, Lynn Bernstein, Frances Bahn, Allison Turner, Virginia Shapiro und du. Sieben insgesamt.“
Schwester Mary schluckte schwer und unterdrückte einen Aufschrei. Zwar hatte sich bei einigen durch Heirat der Nachname geändert, aber ihr Gedächtnis hatte sie nicht im Stich gelassen. Jede der ums Leben gekommenen Frauen war mit ihr in dieser Klasse gewesen.
„Brauchst du sonst noch was, Darling?“ fragte Edna. „Ja. Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mir das
Jahrbuch über Nacht als Expresssendung zuschicken?“
„Oh, das ist aber ziemlich teuer. Ich könnte doch einfach …“
„Mutter, bitte. Ich muss es haben.“
„Ist ja gut. Wenn wir Schluss gemacht haben, bringe ich es zu FedEx.“
Schwester Mary seufzte. „Danke, Mutter, tausend Dank.“
Edna lachte. „Kein Problem, Darling. Du fehlst uns, weißt du das?“
„Du fehlst mir auch, Mutter.“
Edna lächelte. „Das weiß ich doch, mein Schatz. Gott segne dich.“
Schwester Mary schossen Tränen in die Augen. „Ja, Gott segne dich auch“, wiederholte sie und legte auf.
Sie sah die Briefe an, dann blickte sie auf die Namensliste. Jemand musste schon das Prinzip des Zufalls außer Kraft gesetzt haben, wenn zwischen den Todesfällen keine Verbindung bestand. Sie und Ginny Shapiro waren die beiden einzigen Überlebenden. Innerhalb von zwei Monaten hatten sich fünf junge und lebensfrohe Frauen umgebracht, und Schwester Mary konnte nicht anders, als daran zu denken, dass sie und Ginny die nächsten Opfer sein würden.
Sie begann über das nachzudenken, was sie soeben erfahren hatte. Zwei Gemeinsamkeiten verbanden die Todesfälle: Alle Opfer hatten an dem besonderen Unterricht teilgenommen, und in jedem Fall war der Freitod die Folge eines Telefonats gewesen.
Doch wer hatte angerufen? Und was konnte dieser Unbekannte gesagt haben, um eine so entsetzliche Reaktion auszulösen? Etwas Schreckliches ging vor sich, und sie hatte nicht das Gefühl, dass Gebete jetzt noch ausreichten. Sie musste Hilfe in Anspruch nehmen, bevor es auch sie und Ginny traf.
Sie suchte Ginnys Telefonnummer aus ihrem Adressbuch und rief sie an. Als der Anrufbeantworter reagierte, schüttelte sie verärgert den Kopf. Natürlich arbeitete Ginny um diese Zeit, würde also nicht zu Hause sein. Sie rief bei der
St. Louis Daily
an, musste aber erfahren, dass Ginny den ganzen Tag über außer Haus war. Sie bat um einen Rückruf. Jetzt bekam sie richtig Angst.
Im gleichen Augenblick musste sie an Sullivan Dean denken, den besten Freund ihres Bruders. Als Kind war Sully ihr Ritter in einer strahlenden Rüstung gewesen. An dem Tag, an dem sie sich entschloss, eine Braut Christi zu werden, gab sie den Traum auf, ihn irgendwann einmal zu heiraten. Aber Sullivan Dean war noch immer der Ritter in der strahlenden Rüstung. Mit dem einzigen Unterschied, dass er das imaginäre Schwert gegen eine FBI-Dienstmarke eingetauscht hatte. Er würde herausfinden, was hinter den Todesfällen steckte, doch dafür musste er auch alle Informationen bekommen, die sie besaß.
Sie
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