Das Experiment
Ginny sehr daran, dass sie bequem auf einen BH verzichten konnte, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Ginny Shapiros einzige Schwäche war ihre Art zu gehen. Die Natur hatte sie nicht mit einem leichten, wippenden Gang beschenkt.
Im Flur schlug plötzlich eine Uhr. Sie wirbelte auf der Stelle herum, in der einen Hand ein Kleid, in der anderen ein Paar Schuhe, und sah zur Uhr.
Oh nein! Viertel vor fünf. Joe würde jeden Augenblick klingeln.
Mit hektischen Bewegungen warf sie ihre Kleidung auf das Bett und begann, in der Schublade Unterwäsche herauszusuchen. Nur fünf Minuten später stand sie wieder vor dem Spiegel im Badezimmer, den sie behelfsmäßig trockengewischt hatte, um in aller Eile ihr Make-up aufzulegen.
Sie warf den Lippenstift auf die Badezimmerablage und nahm den Föhn, um mit stärkster Leistung ihre Haare zu trocknen. Ihr glattes, schulterlanges Haar war noch immer feucht, als sie die Türklingel hörte. Sie warf einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und stürmte zur Wohnungstür.
Bevor sie öffnete, atmete sie noch einmal tief durch, verdrehte die Augen, weil sie ein solches Theater wegen eines Abendessens mit einem Mann veranstaltete, der für sie niemals mehr als ein Freund sein würde, dann machte sie die Tür auf.
„Ich hoffe nur, dass du einen Riesenhunger hast. Ich bin nämlich so gut wie ausgehungert, aber ich möchte nicht mehr essen als du“, sagte sie.
Joe Mallory grinste und erwiderte: „Du isst immer mehr als ich.“
Ginny warf ihm einen viel sagenden Blick zu und meinte: „Das kostet dich einen Nachtisch.“
Dann nahm sie ihre Handtasche und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Als sie Momente später im Aufzug standen und auf dem Weg nach unten und damit zu weit entfernt waren, um noch etwas davon wahrzunehmen, klingelte das Telefon. Der Anrufbeantworter sprang an.
„Hier ist Virginia Shapiro. Hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.“
Es folgte ein langer Pfeifton, aber niemand sagte etwas. Nach ein paar Augenblicken wurde die Verbindung unterbrochen. Das war nicht weiter schlimm. Der Anruf würde später noch einmal erfolgen, es war noch Zeit genug.
Am nächsten Morgen zitterten Schwester Mary Teresas Hände, während sie nach dem Telefonhörer griff, um den Anruf zu erledigen. Die Briefe sowie die E-Mail, die sie von einem entfernt verwandten Cousin erhalten hatte, sprachen eine deutliche Sprache. Fünf Frauen, mit denen sie in die erste Klasse gegangen war, hatten Selbstmord begangen, und das in einem Zeitraum von wenigen Wochen.
Es gab noch eine seltsame Verbindung zwischen ihnen, die ihr aber erst aufgefallen war, nachdem sie bei den fünf Familien angerufen hatte, um ihr Beileid auszusprechen. Ausnahmslos war es den Frauen sehr gut gegangen, bis sie plötzlich einen Anruf erhalten hatten. Die Frage war nur, welche Nachricht so schlimm sein konnte, dass sie alle so gleichermaßen selbstzerstörerisch reagiert hatten. Es ergab keinen Sinn. Hinzu kam die Tatsache, dass sie die Namen mit einer anderen Erinnerung in Verbindung brachte. Sie wusste, wen sie anrufen musste, um die Antworten zu erhalten.
Sie atmete tief durch, dann tippte sie die Nummer ein. Als sie am Ende der Leitung die Stimme ihrer Mutter vernahm, fühlte sie sich von dem Wunsch überwältigt, wieder ein Kind zu sein, um den Kopf in den Schoß ihrer Mutter zu legen und darauf zu warten, dass alles wieder in Ordnung kam. Sie unterdrückte diese Schwäche und sprach mit freundlicher Stimme, obwohl sie am liebsten geheult hätte.
„Mutter, ich bin es.“
Sie konnte fast hören, wie Edna Dudley zu grinsen begann. „Darling! Du bist zurück! Wie war es in Rom?“
„Wunderbar. Und so erfrischend für den Geist. Mutter, ich würde mich gerne viel länger mit dir unterhalten, aber ich bin schon spät dran. Wir besuchen heute Morgen ein Kinderkrankenhaus, und ich möchte nicht, dass die anderen ohne mich abfahren. Aber du musst mir einen Gefallen tun.“
„Alles, was du willst“, erwiderte Edna.
„Weißt du, wo sich mein altes Jahrbuch von der Montgomery Academy befindet?“
„Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, es steht in deinem Zimmer in einem Regal. Soll ich nachsehen?“
Schwester Mary zögerte.
„Das dauert nicht lange“, sagte Edna. „Ich bin schon im ersten Stock.“
„Dann bitte ja. Es ist wichtig.“
Edna legte den Hörer zur Seite.
Schwester Mary konnte hören, wie sich die Schritte entfernten, und stellte sich
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