Das Experiment
ihnen zu sagen hast.“
Emile lächelte erneut, während er seine Krawatte band.
Lucy ging durchs Zimmer, holte unter dem Bett eine Socke hervor und rückte dann Emiles Schuhe im Schrank zurecht. Zum ersten Mal seit Wochen schien er sich mit dem plötzlichen Ruhm arrangiert zu haben. Als die ersten Meldungen kursierten, er sei für eine Auszeichnung vorgesehen, hatte er oft schlaflose Nächte verbracht, oder er war schweißgebadet aus dem Schlaf hochgeschreckt. Sie hatte ihn angefleht, einen Arzt aufzusuchen, aber er hatte sich geweigert und alles auf seine Nerven geschoben. Im Lauf der Wochen hatte sich daran nichts geändert; erst in den letzten Tagen schien er gelassener damit umgehen zu können, was aus ihm geworden war – ein vormals unbedeutender Arzt, dessen Foto mit einem Mal auf den Titelseiten zu finden war.
Sie wischte eine Fluse von seinem Jackett, während er sein schütteres graues Haar glättete. Es war nicht nur ihre Aufgabe, Emile der Welt in perfektem Zustand zu präsentieren – es war ihr auch eine besondere Freude. Nach jahrelangem finanziellen Überlebenskampf und dem Getuschel der Frauen in ihren gesellschaftlichen Kreisen hatte er es geschafft. Er hatte den Nobelpreis für Medizin erhalten, er, der Mann, über den ihre Bekannten so oft Witze gerissen hatten, der Mann, den sie geheiratet hatte und der der Grund war, dass ihre Familie sie enterbt hatte. Dass die Nachricht vor über einem Monat publik geworden und für viele bereits Schnee von gestern war, störte sie nicht.
„Keine Aufregung“, sagte Emile. „Mir geht’s gut.“
„Ich möchte dir nur helfen“, erwiderte sie.
Emile drehte sich um und fuhr mit seinen Fingern über das Gesicht seiner Frau, bis die traurig nach unten gezogenen Mundwinkel sich zu einem Lächeln veränderten.
„Lucy, meine Liebe, du bist immer eine Hilfe für mich.“
Sie begann zu kichern, und in seinen Augen war sie wieder ein junges Mädchen, nicht seine achtundsechzig Jahre alte Ehefrau. Es war ein Segen, dass Lucy so leicht zufrieden zu stellen war. Er hielt es für den einzigen Grund, dass ihre Ehe so lange gehalten hatte. In den frühen Jahren hatte seine Leidenschaft für seine Studien das Privatleben so sehr in den Hintergrund treten lassen, dass sein Sohn Phillip für ihn fast ein Fremder geworden war. Aber Lucys Vertrauen in ihn hatte nie auf der Kippe gestanden, und dafür war er ihr zutiefst dankbar.
Er sah ein letztes Mal in den Spiegel, während Lucy aus dem Zimmer eilte und etwas davon murmelte, sie müsse nach den Blumen sehen. Erst in den letzten Jahren hatten sie sich eine Putzfrau leisten können, und auch wenn es Lucy gefiel, dass ihre Freunde von dieser Tatsache wussten, vermutete er, dass sie eigentlich etwas dagegen hatte, dass sich eine andere Frau in ihrem Haus aufhielt. Dass sie eine Hilfe hatten, war aber ein wichtiger Faktor, um ihr Leben in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen, da sich Phillip in Wahrheit für sie beide zu einer großen Last entwickelt hatte. Zum einen verlor er nach kurzer Zeit jeden Job, den er anfing, zum anderen wurde er in regelmäßigen Abständen von Depressionen heimgesucht. Beides drohte ihn auf Dauer ans Haus zu binden, während sie beide nicht jünger wurden. Wegen Phillip war Lucy an das Haus gebunden und konnte nicht über längere Zeit mit Emile verreisen, wenn sie nicht bei der Rückkehr eine Katastrophe erwarten wollten.
Emile zog seine Krawatte gerade, dann griff er nach seinen Manschettenknöpfen. Es war zu schade, dass die Entdeckung, die ihm jetzt den Nobelpreis einbrachte, keine Wirkung bei geistig instabilen Menschen zeigte. Anfangs war er noch dieser Möglichkeit nachgegangen, hatte sie dann aber rasch aufgegeben, nachdem ihm bewusst geworden war, welche Gefahren Hypnose bei einem instabilen Geist beinhaltete.
Als er im Flur Schritte und dann das vertraute, zögerliche Sprechen seines Sohnes hörte, unterbrach er seinen Gedankengang.
„Vater?“
Emile wandte sich um und fragte sich wie so oft in den letzten dreißig Jahren, wie er bloß einen solchen Jungen hatte zeugen können. Er war groß, sah auf eine verweichlichte Art gut aus, aber vom Leben hatte er nicht die geringste Ahnung.
„Ja, Phillip, was gibt es?“
Phillip Karnoff trat von einem Fuß auf den anderen und hasste sich dafür, dass er sich in Gegenwart dieses Mannes wie ein Schwächling verhielt. Er war vierzig Jahre jünger, einen halben Kopf größer, und nur einmal wünschte er sich, diesem durchdringenden
Weitere Kostenlose Bücher