Das Experiment
hatte versucht, sich so weit wie möglich von St. Louis zu entfernen, aber sie konnte nicht ewig weiterfahren. Irgendwann würde sie stoppen müssen. Was sie brauchte, war eine Unterkunft, die von den üblichen Routen so weit abgelegen war, dass sich normalerweise niemand dorthin verirren würde. Aber wo sollte sie einen solchen Ort finden?
Dunkle Wolken türmten sich seit Stunden am Horizont auf. Ginny wurde allmählich nervös. Es sah ganz danach aus, dass sie mitten in das drohende Unwetter fahren würde, und das wollte sie keinesfalls. Sie musste vorher einen Unterschlupf finden, da allein der Gedanke an Blitz und Donner sie zu lähmen schien. Sie fuhr an den Straßenrand und studierte die Karte, um ihren Standort zu bestimmen. Sie wusste, dass sie seit einer Weile durch den DeSoto National Forest fuhr und dass sie sich auf dem Highway 29 befand, ein gutes Stück nördlich von Biloxi.
Im gleichen Moment begann es leicht zu regnen. Nervös sah sie auf und bemerkte, dass das Unwetter sie fast erreicht hatte. Sie warf die Karte auf den Beifahrersitz, lenkte den Wagen zurück auf den Highway und gab behutsam Gas. Irgendwo würde sie schon anhalten können.
Zwanzig Minuten später entdeckte sie im strömenden Regen die Umrisse eines Schilds und wurde langsamer, um es lesen zu können.
Tallahatchie River Fishing Dock – ein Kilometer. Hütten zu vermieten.
„Gott sei Dank“, murmelte Ginny.
Wenig später entdeckte sie ein weiteres Schild in Form eines großen Pfeils, der früher einmal in strahlendem Gelb gestrichen war und der nach links zeigte.
„Tallahatchie River Landing“ stand darauf geschrieben. Sie bog nach links in einen alten Kiesweg ein. Wasser
spritzte gegen die Radkästen, als sie eilig durch Pfützen fuhr, während die Scheibenwischer mit höchster Leistung arbeiteten.
„Bitte, bitte, bitte“, flüsterte sie. Ihr Kopf fühlte sich bereits leer an, ihre Konzentration entglitt ihr, und sie hatte das Gefühl, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren. Sie musste raus aus dem Wagen.
Und dann endlich sah sie die kleine Ansammlung rustikaler Hütten vor einer dichten Baumreihe. Eine Hütte stand ein Stück von den anderen entfernt, vermutlich das Büro.
Nachdem sie angehalten hatte, rannte sie durch den Wolkenbruch in das Büro und kehrte nach wenigen Minuten mit einem Schlüssel für Hütte Nummer zehn zurück, die am Schluss der Gebäudereihe stand. Nachdem sie den Wagen direkt davor abgestellt hatte, nahm sie ihren Koffer und eilte abermals durch den Regen. Die Ironie ihres neuen Zuhauses entging ihr nicht. Nachdem sie die ganze Zeit über davongelaufen war, befand sie sich jetzt buchstäblich am Ende.
5. KAPITEL
G inny erwachte wenige Minuten nach Mitternacht. Desorientiert stieg sie aus dem Bett und sah sich irritiert um. Ein Blitz erhellte für einen kurzen Moment den Raum, und sie erkannte Wände aus grob behauenem Stein und einen schäbigen Holzfußboden. Da fiel ihr wieder ein, dass sie auf der Flucht war.
Mit der Erinnerung kehrte die Trauer zurück. Georgia war tot.
Sie taumelte ins Badezimmer und entledigte sich auf dem Weg dorthin ihrer Kleidung. Sie ignorierte den Schimmel zwischen den alten Fliesen und seifte sich ein, als würde sie sich nie von der Furcht befreien können, die in ihr Leben getreten war. Wie sollte sie gegen einen Feind antreten, den sie nicht sehen konnte?
Schließlich wurde das Wasser kalt, und ihr wurde klar, dass sie wohl den Heißwassertank geleert hatte. Sie streckte ihren Arm durch den Plastikvorhang aus und tastete so lange, bis sie das Handtuch gefunden hatte.
Nackt und mit vom rauen Frotteestoff des Handtuchs geröteter Haut durchsuchte sie den Koffer nach neuer Kleidung. Vom Regen auf dem Dach der Hütte war nichts mehr zu hören, aber sie wusste, dass sich der Sturm noch nicht gelegt hatte. Das konnte sie nur allzu deutlich wahrnehmen.
Ginny zog eine Jogginghose und ein weites T-Shirt an, dann ging sie zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite, um nach dem Schalter für die Klimaanlage zu suchen. Sie ignorierte die Staubschicht auf der Anlage und schaltete sie in der Hoffnung ein, dass sie Abkühlung brachte und zugleich die Geräusche übertönte, die der Sturm verursachte. Sie rümpfte die Nase, als sie den modrigen Geruch wahrnahm, den die Klimaanlage verbreitete. Dann legte sie sich wieder ins Bett und zog das Laken bis zum Kinn hoch. Während sie erneut schläfrig wurde, beherrschte sie der Gedanke, weiter unentdeckt zu bleiben.
Kurz
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