Das Experiment
nach Mittag verließ Sully die Interstate 55 in Richtung Grenada, Mississippi. Er musste tanken, außerdem war es mehr als überfällig, dass er sich bei seinem Vorgesetzten meldete. Über kurz oder lang würde sein Verschwinden auffallen, und da das FBI höchstwahrscheinlich den Fall an sich angenommen hatte, wollte er keinem Kollegen in den Weg geraten. Die Erklärung, warum er sich überhaupt ohne Rücksprache mit seinem Chef auf die Suche gemacht hatte, konnte etwas heikel werden, aber auf der anderen Seite war es seine Sache, was er in seiner Freizeit machte.
Nachdem er voll getankt und sich eine Flasche Limonade und eine Packung Erdnuss-Cracker gekauft hatte, gab er auf seinem Handy die Nummer des Büros ein.
Während er darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam, aß er einen Cracker und nahm einen Schluck Limonade.
In dem Moment hörte er die vertraute Stimme von Myrna Page, der Sekretärin seines Vorgesetzten.
„Myrna, ich bins, Sully. Ich muss den Boss sprechen.“
„Guten Tag, Agent Dean, einen Augenblick bitte.“
Unwillkürlich musste er lächeln. Er kannte die Frau seit fast sechs Jahren, und noch immer sprach sie ihn nicht mit seinem Vornamen an.
„Dean, ich hatte Ihren Anruf schon gestern erwartet.“
Sully stellte die Flasche auf den Boden und fuhr sich durchs Haar. Auch wenn sein Boss ihn nicht sehen konnte, war der Reflex, vor dem Mann Haltung anzunehmen, ihm in Leib und Seele übergegangen.
„Ja, Sir, ich weiß. Aber es ist etwas dazwischengekommen.“
„Etwas Weibliches?“
Sully seufzte. „Ja, aber nicht so, wie Sie denken.“
„Dann klären Sie mich auf.“
Sully atmete tief durch. „Ich bin in Mississippi.“
Am anderen Ende der Leitung war nach einer kurzen Pause ein leises verärgertes Schnaufen zu hören.
„Und warum?“
„Es hat als private Reise begonnen, Sir, aber ich vermute, es entwickelt sich zu einem Fall … unserem Fall.“
„Ich höre.“
„Ich nehme an, dass Sie von den Todesfällen in Verbindung mit der Montgomery Academy gehört haben. Das letzte Opfer war Schwester Mary Teresa vom Sacred Heart Convent im Norden von New York.“
„Wie zum Teufel wissen Sie etwas darüber?“
Sully zögerte. Jetzt kam der heikle Teil.
„Es hat angefangen mit dem Brief einer alten Freundin, und nachdem ich im Sacred Heart Convent gewesen war …“
„Sie waren im Kloster? Wissen Sie eigentlich, was Sie da machen?“
„Ja, Sir, das weiß ich. Und darum rufe ich auch an.“
Er begann zu erklären, was sich zugetragen hatte, und als er endete, war sein Vorgesetzter erkennbar ruhiger geworden.
„Sie sehen also, Sir, dass ich es nicht nur für meine Pflicht halte, Miss Shapiro zu finden und zu beschützen, bis der Fall gelöst ist. Es ist auch das Einzige, was ich noch für Georgia tun kann.“ Er wartete einen Moment, dann fügte er an: „Ich muss das machen, Sir, für meinen eigenen Seelenfrieden. Ich konnte Georgia nicht mehr helfen, aber Virginia Shapiro hat noch eine Chance.“
„Wissen Sie irgendetwas, das ich nicht weiß?“
„Nein, Sir. Detective Pagillia von der Polizei in St. Louis weiß so viel wie ich und so viel wie Miss Shapiro selbst. Sie ist auf der Flucht, Sir, und sie steht Todesängste aus. Lassen Sie mich sie suchen. Wenn es sicher erscheint, bringe ich sie mit, sonst bleibe ich so lange bei ihr, bis die Sache ausgestanden ist.“
Etwas in Sullys Stimme überzeugte den Chef.
„Ich verstehe Sie, auch wenn ich nicht sagen kann, dass mir Ihre Vorgehensweise gefällt. Beim nächsten Mal rufen Sie mich erst an, bevor Sie sich an eine so explosive Sache ranmachen.“
„Auf jeden Fall, Sir. Und vielen Dank.“
„Ich gehe davon aus, dass Sie sich regelmäßig melden.“
„Selbstverständlich.“
„Brauchen Sie noch irgendetwas?“ fragte der Vorgesetzte.
„Nun, gestern habe ich nach ihrem Namen suchen lassen, um zu sehen, ob sie irgendeine Spur hinterlassen hat, und dabei habe ich einen Treffer bei einem Geldautomaten erzielt. Sie war in Collins, Mississippi. Dorthin fahre ich im Augenblick.“
„Ich lasse Myrna weiter nachforschen. Haben Sie die Highway Patrol informiert?“
„Noch nicht, ich wollte mich erst bei Ihnen melden.“
„Dann warten Sie erst einmal ab, was Myrna herausfindet“, sagte er. „Ab jetzt sind Sie dazu autorisiert, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Frau zu finden und zu beschützen. Wenn Sie aber neue Informationen haben, melden Sie sich. Agent Howard leitet den Fall.“
Dan
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