Das Experiment
„Manchmal finde ich das heute immer noch.“
Sully musste herzhaft lachen. Ginny war völlig überrascht, weil sie ihn so noch nicht erlebt hatte und weil der Ausdruck sein Erscheinungsbild völlig veränderte.
„Sie sollten das öfter machen“, meinte sie.
„Was denn?“
„Lachen. Steht Ihnen gut.“
Verärgert darüber, dass sie zu viel gesagt hatte, wollte sie sich abwenden, da legte Sully seine Hand auf ihre Wange.
„Sie machen es schon wieder“, sagte er. „Und tun Sie jetzt bloß nicht so, als wüssten Sie nicht, wovon ich rede. Sie sagen etwas Nettes, und dann sind Sie gleich gereizt. Was geht Ihnen durch den Kopf?“
Sie verengte wütend die Augen. „Ich dachte, Sie sind mein Leibwächter, nicht mein Therapeut.“
„Ginny.“
Sie seufzte. „Es hat mit Ihnen nichts zu tun, es liegt an mir.“
„Das sehe ich anders, weil ich nämlich derjenige bin, der Ihre Launen abbekommt.“
Der Sarkasmus in seinen Worten brachte das Fass zum Überlaufen. Mit zitternder Stimme brach es aus ihr hervor: „Du willst wissen, was nicht stimmt? Ich werde es dir sagen! Ich fühle mich zu dir hingezogen, und das will ich eigentlich nicht. Jemand ist hinter mir her und will mich umbringen, und ich habe nichts Besseres zu tun, als einen FBI-Agenten anzuhimmeln, der aus meinem Leben verschwindet, sobald dieser Fall erledigt ist! Das ist das, was nicht mit mir stimmt! Ich versuche, Distanz zu dir zu wahren, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ich bin sicher, dass das im Grunde nur dieses … dieses … wie heißt das noch, ja, dieses China-Syndrom ist, aber das hilft mir auch nicht.“
„Stockholm“, murmelte er, unfähig, etwas anderes von sich zu geben.
„Wovon redest du da?“ gab sie zurück.
„‚Das China-Syndrom‘ war ein Film. Ich glaube, du meinst das Stockholm-Syndrom, bei dem ein Opfer eine romantische Beziehung zu seinem Geiselnehmer entwickelt.“
„Oh ja, danke vielmals!“ herrschte sie ihn an. „Danke, dass du mich noch verbesserst, wenn ich mich schon zum Narren mache. Das gibt der Sache wenigstens den richtigen Kick.“
Nachdem sie alles gesagt hatte, was ihr möglich war, ohne in Tränen auszubrechen, drehte sich Ginny um und marschierte mit hoch erhobenem Kopf zurück in Richtung Hütte.
Sully stand da und sah ihr nach. Etwas anderes konnte er nicht machen, wenn er nicht gerade bereit war, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, um seiner elenden Existenz ein Ende zu setzen. Aber so weit war er nicht. Noch nicht. Nicht, wenn die schönste Frau, die er seit Jahren gesehen hatte, ihm erklärte, sie fühle sich von ihm angezogen.
Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Verdammt. Sie mochte ihn. Sie mochte ihn wirklich. Natürlich musste er erst einmal einen Weg finden, um ihre Abneigungen zu überwinden, von denen sie einige vorzuweisen hatte. Aber er hatte schon immer eine Schwäche für Herausforderungen, und Virginia Shapiro besaß die Voraussetzungen, um die größte Herausforderung seines Lebens zu werden.
Als er bemerkte, dass sie fast außer Sichtweite war, eilte er ihr nach. Auf dem Weg zurück zur Hütte erschreckte ihn das Geräusch eines zerbrechenden Astes, aber als er ins Unterholz sah, ergriff plötzlich ein Hase die Flucht vor ihm. Erleichtert aufatmend ging er weiter.
Carney atmete langsam aus, als der große Mann sich entfernte. Fast hätte er ihn entdeckt, wäre da nicht dieser Hase losgerannt. Er war zu weit weg gewesen, um ein Wort zu verstehen, aber die Gesten hatten ihm verraten, dass sie sich stritten. Er hatte auch genug gesehen, um seine Meinung zu ändern, an wem er sich rächen wollte. Er würde dem Mann wehtun, sehr sogar. Aber erst, nachdem er ihm die Frau genommen hatte. Ein Mann war erst dann richtig verwundbar, wenn er verliebt war.
„Das wird dir noch Leid tun“, murmelte er und sah Sully nach, bis der nicht mehr zu sehen war. „Heute Nacht wirst du bedauern, dass du jemals gelebt hast.“
8. KAPITEL
Z war waren Stunden vergangen, seit Ginny im Wald die Beherrschung verloren hatte, dennoch verhielt sie sich immer noch verschlossen zu dem Thema. Und Sully war klug genug, vorläufig nicht darauf zu sprechen zu kommen. Stattdessen hatte er sie wie eine Tatverdächtige gnadenlos über jedes Detail ihrer Kindheit ausgehorcht. Auch wenn das Verhör hart gewesen war, hatte es Ginnys Nerven besänftigt, als hätte es sie an den wahren Grund ihres Zusammenseins und daran erinnert, was notwendig war, um eine Lösung für ihre Situation
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