Das fahle Pferd
großen, frisch beschrifteten Tafel, auf der verschiedene Gerichte angepriesen wurden.
Ich stieß die Tür auf und ging hinein. Linker Hand war die Bar, rechts ein kleiner Aufenthaltsraum, wo es nach kalter Asche roch. Neben der Treppe hing ein schmaler Hinweis: »Büro.« Von diesem Büro war jedoch nur das geschlossene Fenster zu sehen und eine gedruckte Karte: »Bitte läuten.« Das Ganze wirkte so wie alle derartigen Lokale, die zu dieser Tageszeit noch geschlossen sind. Auf einem schmalen Gestell neben dem Fenster lag ein aufgeschlagenes Gästebuch. Ich betrachtete es und blätterte darin – höchstens fünf oder sechs Gäste pro Woche, und auch diese nur für eine einzige Übernachtung. Mit großem Interesse las ich diese Eintragungen.
Es dauerte nicht lange, bis ich das Buch wieder schloss. Immer noch war kein Mensch zu sehen, und es gab keinen vernünftigen Grund für mich, in diesem Stadium der Angelegenheit hier Fragen zu stellen. Ich ging daher ohne Weiteres wieder hinaus in die frische Abendluft.
War es nur Zufall, das unter den wenigen Gästen des vergangenen Jahres die Namen Sandford und Parkinson waren? Beide standen auf Corrigans Liste, aber sie waren zu alltäglich, um daraus Schlüsse zu ziehen. Doch eine andere Eintragung war mir aufgefallen: Martin Digby. Sollte dies jener Martin Digby sein, den ich kannte, dann handelte es sich um den Großneffen jener Dame, die ich immer Tante Min genannt hatte – Lady Hesketh-Dubois.
Ich ging weiter, ohne auf meine Umgebung zu achten. Hätte ich nur mit irgendeinem Menschen sprechen können – mit Jim Corrigan zum Beispiel oder mit David Ardingly… oder auch mit Hermia, deren kühle Gelassenheit mir jetzt fehlte. Ich war ganz allein mit meinen wirren Gedanken und Überlegungen. Doch ich wollte nicht allein sein! Ich brauchte dringend einen Menschen, der mir meine Ruhe wiedergeben könnte.
Nachdem ich eine halbe Stunde lang durch das feuchte Gras gestapft war, öffnete ich schließlich die Gartenpforte zur Pfarrei und ging auf dem äußerst schlecht gepflegten Weg zur Haustür, um dort an einer verrosteten Glocke zu ziehen.
16
» S ie läutet nicht«, sagte Mrs Dane Calthrop, die unversehens wie ein Geist plötzlich vor mir stand.
Diese Vermutung hatte ich auch schon gehabt.
»Zweimal ist sie bereits repariert worden«, fuhr die Dame des Hauses fort, »aber es hält nie lange. Ich muss daher immer selbst aufpassen – für den Fall, dass etwas Wichtiges ansteht. Ihr Anliegen ist doch wichtig, nicht wahr?«
»Nun ja… gewissermaßen schon… für mich wenigstens.«
»Das eben wollte ich damit sagen…« Sie blickte mich nachdenklich an. »Ja, ich sehe, es ist ziemlich schlimm. – Wen wollten Sie denn sprechen? Den Reverend?«
»Ich… ich bin mir nicht sicher…«
Natürlich hatte ich ursprünglich mit dem Reverend reden wollen, doch plötzlich bezweifelte ich, ob er der Richtige dafür war. Ich konnte mir mein Zaudern zwar nicht erklären – aber Mrs Calthrop tat es für mich.
»Mein Mann ist ein herzensguter Mensch – auch außerhalb seines Berufs, meine ich. Das macht aber die Probleme manchmal nur schwieriger, denn wirklich vornehme Naturen können das Schlechte einfach nicht verstehen.«
Sie hielt einen Augenblick inne, um dann wie selbstverständlich zu schließen: »Ich glaube, Sie halten sich besser an mich.«
Trotz meiner Sorgen musste ich lächeln. »Menschliche Schlechtigkeit ist also Ihr Gebiet?«
»Ja«, bestätigte sie schlicht. »Sehen Sie: In einer ländlichen Pfarrei ist es notwendig, das jemand auch über die… Sünden seiner Mitmenschen Bescheid weiß.«
»Gehört ›Sünde‹ nicht ganz speziell zum Aufgabenkreis Ihres Mannes?«
»Das Vergeben der Sünden«, verbesserte sie mich. »Er kann die Absolution erteilen – ich kann dafür die Sachen manchmal einrenken. Wenn man Bescheid weiß, findet man oft auch eine Lösung, die keinem wehtut. Man kann den Menschen wieder auf den rechten Weg helfen. Oh, verstehen Sie mich recht: Ich vermag das nicht, ich kann nur Hinweise geben. Gott allein bringt die Menschen dazu, wahre Reue zu empfinden.«
»Ich kann mich natürlich nicht mit Ihrem Wissen und Ihren Erfahrungen messen«, murmelte ich. »Aber mir liegt sehr viel daran, einige Menschen vor Bösem zu bewahren.«
Sie warf mir einen raschen, verstehenden Blick zu. »Wenn es sich so verhält, dann kommen Sie wohl am besten herein, damit wir ungestört miteinander sprechen können.«
Das Wohnzimmer war groß und
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