Das fahle Pferd
sich gegenseitig ebenfalls an den Händen fassten, sodass wir einen geschlossenen Kreis bildeten.
Plötzlich ertönten von der Decke herunter die gedämpften Klänge von Mendelssohns Trauermarsch – Thyrza musste irgendwo den Kontakt zu einer Grammophonplatte ausgelöst haben.
Ich blieb kühl und kritisch angesichts dieser kitschig-theatralischen Inszenierung und dennoch fühlte ich ein leises Grauen in mir aufsteigen.
Die Musik verstummte. Lange Zeit blieb alles still, nur Bellas Keuchen und Sybils ruhige Atemzüge waren vernehmbar.
Auf einmal begann Sybil zu sprechen, aber nicht in ihrer eigenen gezierten Weise, sondern mit einer fremdartig tiefen, kehligen Männerstimme.
»Ich bin hier«, sagte diese Stimme.
Meine Hände wurden losgelassen, Bella glitt wieder in den Schatten zurück, Thyrza aber wandte sich zum Diwan hin und fragte: »Guten Abend – bist du es, Macandal?«
»Ich bin Macandal.«
Thyrza ging zum Diwan hinüber und schob den schützenden Baldachin beiseite. Das weiche Licht flutete über Sybils Gesicht. Sie schien fest und ruhig zu schlafen und in dieser Gelöstheit sah sie ganz anders aus als sonst. Alle harten Linien waren wie weggewischt, sie wirkte um Jahre jünger, beinahe schön.
»Bist du bereit, Macandal, meinen Wunsch und Willen auszuführen?«, fuhr Thyrza fort.
»Ich bin bereit.«
»Beschütze den Körper dieser Dossu, den du jetzt bewohnst, vor physischem Harm. Unterwirf all seine Lebenskräfte meinem Ziel, auf dass dieses erreicht werde. Bist du dazu bereit?«
»Ich bin es.«
Thyrza griff mit der Hand hinter sich. Bella näherte sich ihr und reichte ihr einen Gegenstand, den ich für ein Kruzifix hielt. Thyrza legte ihn umgekehrt auf Sybils Brust, ergriff eine kleine, grünlich schillernde Phiole aus Bellas Hand und goss ein paar Tropfen des Inhalts auf Sybils Stirn. Mit dem Finger beschrieb sie ein Zeichen darüber, das ich ebenfalls für ein umgekehrtes Kreuz hielt.
Zu mir gewandt, bemerkte sie kurz: »Geweihtes Wasser aus der katholischen Kirche von Garsington.«
Schließlich tastete sie nach der scheußlichen Rassel, die mir bereits aufgefallen war. Dreimal klapperte sie damit und drückte sie dann in Sybils starre Finger.
Sie trat einen Schritt zurück und rief mit lauter Stimme: »Alles ist vorbereitet!«
Bella wiederholte die Worte: »Alles ist vorbereitet…«
Erneut wandte Thyrza sich mir zu: »Sie sind nicht sehr beeindruckt von dem Ritual? Viele unserer Besucher sind es. Aber halten Sie das Ganze nicht für bloße Schaumschlägerei. Diese Rituale sind durch Jahrhunderte geheiligt und üben einen starken Einfluss auf den menschlichen Geist aus. Was bedeuten Massenpsychose und -hysterie? Wir wissen es nicht – aber das Phänomen besteht. Alle diese alten Bräuche haben einen gewissen Sinn und sind notwendig.«
Bella hatte den Raum verlassen. Jetzt kehrte sie zurück, einen weißen Hahn in den Händen. Er kämpfte und zappelte, um sich zu befreien. Bella kniete vor der Feuerschale nieder, zeichnete mit Kreide Kreise und geheimnisvolle Zeichen um die Schale und den Kupferkessel herum. Dann setzte sie den Hahn mitten in den weißen Kreis hinein… und er blieb regungslos dort stehen.
Während sie weitere Zeichen kritzelte, schwankte sie hin und her und sang mit leiser, gutturaler Stimme unverständliche Worte vor sich hin. Ganz offensichtlich steigerte sie sich in eine Art obszöner Ekstase hinein.
Thyrza betrachtete mich und bemerkte sachlich: »Das gefällt Ihnen nicht? Verständlich, aber es ist ein alter, sehr alter Brauch. Todesanrufungen in der Art der heidnischen Zaubersprüche, von der Mutter auf die Tochter vererbt.«
Ich konnte Thyrzas Haltung nicht verstehen; sie tat nichts, um die Atmosphäre des Geheimnisvollen zu unterstreichen, sondern begnügte sich ganz bewusst mit der Rolle einer Kommentatorin.
Bella streckte ihre Hand nach der Feuerschale aus und eine flackernde Flamme schoss empor. Dann warf sie ein paar Körner hinein, worauf sogleich ein betäubend süßlicher Geruch den ganzen Raum erfüllte.
»Wir sind bereit!«, rief Thyrza.
Der Arzt greift zum Skalpell, dachte ich.
Sie ging zu dem Kasten hinüber, in dem ich einen Radioapparat vermutet hatte, und öffnete ihn. Eine komplizierte elektrische Anlage mit vielen Dosen und Drähten kam zum Vorschein, montiert auf ein fahrbares Gestell. Thyrza schob es langsam und vorsichtig in die Nähe des Diwans. Sie beugte sich hinunter, schob und drehte an den Reglern herum und murmelte dabei:
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