Das fahle Pferd
»Kompass Nord-Nordost… Gradeinteilung… das dürfte richtig sein.« Bedächtig griff sie nach Gingers Handschuh und legte ihn sorgfältig in eine bestimmte Richtung; gleichzeitig knipste sie eine kleine violette Lampe daneben an.
Dann wandte sie sich der reglosen Gestalt auf dem Diwan zu: »Sybil Diana Helen, du bist nun befreit von der körperlichen Hülle, die der Geist Macandal für dich hütet. Du bist frei, um dich mit dem Eigner dieses Handschuhs zu vereinigen. Sein Ziel ist – wie das aller Sterblichen – der Tod. Nur im Tod ist Befriedigung, nur der Tod löst alle Probleme und gibt den wahren Frieden. Alle Großen dieser Erde haben das erkannt. Liebe und Tod sind unsere Triebfedern – aber der Tod ist stärker…«
Die Worte klangen hell und klar; aus der großen Kiste ertönte ein leises Summen, die Glühlampen darin flackerten auf. Ich war wie betäubt. Dies war nicht mehr der spiritistische Hokuspokus, den man belächeln konnte. Thyrza hielt die bewegungslose Gestalt auf dem Diwan in ihrem Bann – benützte sie für ihre eigenen düsteren Zwecke. Sybil wusste wirklich nichts von dem, was mit ihr geschah; ihr Geist schwebte in anderen Regionen.
Die klare Stimme fuhr fort: »Der schwache Punkt… jeder Körper hat einen schwachen Punkt… er bereitet sich auf den Frieden des Todes vor. Nach der Erlösung vom Körper sehnt er sich… langsam, ganz natürlich. Der wahre Weg… der natürliche Weg. Befiehl ihm den Tod! Der Tod ist Sieger… Tod… bald… sehr bald… Tod – Tod – TOD!«
Thyrzas Stimme steigerte sich zu einem wilden Schrei.
Ein zweiter, fürchterlicher Schrei kam von Bella. Sie erhob sich, ein Messer blitzte auf und der Hahn stieß ein heiseres Krächzen aus. Blut tropfte in die Kupferschale.
Bella rannte herbei, die Schale in der ausgestreckten Hand, und schrie: »Blut… das Blut… BLUT!«
Thyrza griff nach Gingers Handschuh und tauchte ihn in das Gefäß.
Wieder erklang Bellas fürchterlicher, hysterischer Schrei: »Blut… das Blut… das Blut …!«
Sie rannte wie irr um die Feuerschale herum und fiel dann plötzlich zu Boden. Ihre Glieder zuckten wie im Schüttelfrost. Die Flamme flackerte noch einmal auf und erlosch.
Ich fühlte mich krank und elend. Mein ganzer Kopf schien sich im Wirbel zu drehen…
Da hörte ich ein leises Klicken, das Gesumm in der Maschine verstummte.
Und Thyrzas Stimme erklang, klar und gelassen: »Alte und neue Magie. Das alte Wissen um Geheimnisse – das neue Wissen der Technik. Gemeinsam tragen sie den Sieg davon…«
31
» N un, wie war es?«, fragte Rhoda eifrig am Frühstückstisch.
»Oh – der übliche Klimbim«, bemerkte ich nonchalant.
Forschend ruhten Despards Augen auf mir; er ließ sich nicht so leicht in die Irre führen.
»Pentagramme auf dem Boden?«
»In rauen Mengen.«
»Und weiße Hähne?«
»Nur einer. Das war Bellas Anteil an dem Spaß.«
»Natürlich Sybil in Trance und so weiter.«
»Wie du sagst: Sybil in Trance und so weiter.«
Rhoda machte ein enttäuschtes Gesicht. »Du scheinst das Ganze ziemlich langweilig gefunden zu haben«, warf sie mir vor.
Ich behauptete gähnend, diese Dinge seien eigentlich immer gleich – aber immerhin hätte ich meine Neugier befriedigt.
Etwas später, als Rhoda in die Küche gegangen war, meinte Despard: »Die Sache hat dir einen kleinen Schock versetzt?«
»Nun…«
Ich wollte mit einem leichten Wort darüber hinweggehen, aber Despard war nicht der Mann, der sich täuschen ließ.
Langsam fuhr ich daher fort: »Es war irgendwie… scheußlich und bestialisch.«
Er nickte verstehend. »Man will ja nicht daran glauben, jedenfalls nicht mit dem Verstand. Aber trotzdem kann man sich dem Einfluss nicht entziehen. In Ostafrika habe ich viele derartige Dinge gesehen. Die Medizinmänner dort haben eine ungeheure Macht über die Menschen und man muss zugeben, dass oft genug Seltsames geschieht, das sich unserem normalen Denkvermögen entzieht.«
»Auch Todesfälle?«
»O ja. Sobald der Magier einem Menschen sagt, er sei vom Tode gezeichnet – stirbt jener tatsächlich.«
»Die Macht der Suggestion?«
»Höchstwahrscheinlich. Und dennoch erklärt das nicht alles. Es gibt auch Fälle, wo unsere ganze Wissenschaft versagt…« Er ließ es dabei bewenden.
Gleich darauf begab ich mich in die Pfarrei. Die Tür war offen, doch niemand schien da zu sein. Ich ging in das kleine Zimmer zum Telefon und rief Ginger an.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis ich endlich ihre
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