Das falsche Urteil - Roman
war.
Er schaltete das Radio ein, und während sie durch die sonntäglich leeren Straßen fuhren, konnten sie sich die Acht-Uhr-Nachrichten anhören, die sich vor allem um die Lage auf dem Balkan und die neuen, altvertrauten Naziaufmärsche in Ostdeutschland drehten.
Und dann folgte der Wetterbericht, der einen strahlendschönen Tag mit klarem Himmel und Temperaturen bis zu 25 Grad verhieß.
Münster seufzte vorsichtig und dachte, wenn seine Frau neben ihm gesessen hätte, statt eines frisch operierten Kriminalkommissars
von siebenundfünfzig Jahren, dann hätte er in diesem Moment vermutlich seine Hand auf ihren sonnenwarmen Oberschenkel gelegt.
Aber egal – früher oder später musste es doch sogar an diesem Tag ein Uhr werden.
Sie hielten vor der überwucherten Öffnung in der Fliederhecke. Münster drehte den Motor aus und öffnete den Sicherheitsgurt.
»Nein, sitzen bleiben«, protestierte Van Veeteren und schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass du in meinem Nacken herumkeuchst. Hier sind eine Prise Einsamkeit und Nachdenken angesagt. Lass mich in Ruhe und erwarte mich in einer Stunde unten bei der Kirche.«
Er fing an, sich aus dem Auto herauszuquälen. Die Operationsnarbe schien ihn noch sehr zu behindern; er musste sich mit beiden Händen am Dach festhalten und sich mit den Armen hochziehen, statt die Bauchmuskeln einzusetzen. Münster lief um das Auto herum, doch der Kommissar wies alle Hilfsversuche energisch zurück.
»In einer Stunde«, wiederholte er und schaute auf die Uhr. »Ich gehe zu Fuß, der Weg fällt ja in die richtige Richtung ab.«
»Wäre es nicht besser, wenn ich ...«, begann Münster zaghaft, aber der Kommissar fiel ihm gereizt ins Wort.
»Hör mit dem Gehätschel auf, Polizeirat. Davon habe ich wirklich genug, wenn ich um halb elf noch nicht bei der Kirche bin, dann kannst du hier hochfahren und nachsehen.«
»Na gut«, sagte Münster. »Aber sei vorsichtig.«
»Hau ab«, sagte Van Veeteren. »Übrigens, ist die Tür offen?«
»Der Schlüssel hängt an einem Nagel unter der Regenrinne«, teilte Münster mit. »Rechts.«
»Danke«, sagte der Kommissar.
Münster stieg wieder ins Auto, schaffte es, auf dem
schmalen Weg zu wenden und fuhr durch den Wald zum Ort hinunter.
Das ist schon seltsam, dachte er. Wir haben sicher hundert Stunden an diesem Ort verbracht. Aber es würde mich nicht besonders wundern, wenn wir dabei etwas übersehen hätten.
Es würde mich überhaupt nicht wundern.
Van Veeteren blieb neben dem Weg stehen, bis Münsters weißer Audi zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann kletterte er durch die Hecke und nahm den Großen Schatten in Besitz.
Hier herrschte der Verfall. Er schob sich einen Zahnstocher in den Mund und schaute sich um. Umrundete das Wohnhaus, musste aber auf halbem Wege kehrtmachen, da ihm dort die Brennnesseln bis zu den Achselhöhlen reichten. Scheiß drauf, dachte er. Es war trotzdem nicht schwer, sich ein Bild davon zu machen, wie sie früher einmal ausgesehen haben musste... diese Siedlerstelle, die vermutlich um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts urbar gemacht worden war... unter Pflug und Egge genommen, unter menschliche Pflege und mühsames Streben. Und die Mutter Natur jetzt schon weitgehend wiedererobert hatte; Espe und Birke hatten sich zwischen den Obstbäumen breit gemacht; Mauern, Keller und Schuppen waren überwuchert und von Moos bewachsen, und der große Stall, der sicher die berüchtigte Hühnerzucht beherbergt hatte, würde wohl kaum noch viele Winter überstehen. Er konnte sehr deutlich die Grenze erkennen... die Grenze für das, was nicht noch einmal aus dem Zugriff der Natur befreit werden konnte.
Auf jeden Fall nicht von einem einsamen armseligen Knastbruder.
Großer Schatten?
Ein reichlich prophetischer Name, wie man feststellen konnte, da man das Fazit in der Hand hielt. Er fand den
Schlüssel und konnte die Tür nach einiger Mühe dann auch öffnen. Musste gewaltig den Kopf einziehen, um nicht gegen den Türrahmen zu stoßen, und die Decke im Haus war auch so niedrig, dass er nur ganz haarscharf aufrecht darunter stehen konnte. Ihm fiel ein, dass er vor einigen Monaten in der Zeitung gelesen hatte, dass die durchschnittliche Größe der Menschen während des vergangenen Jahrhunderts um einiges gestiegen war. Seine eigenen 185 Zentimeter wären vermutlich als pure Abnormität erschienen, damals, als die ersten Siedler diese Rodung in Besitz genommen hatten.
Zwei Zimmer und eine Küche im
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