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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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schwerer Entschluss zweifellos, aber wenn er sich nun nach der späteren Zeitangabe richtete, dann würde er immerhin nicht angepöbelt werden, weil er die heilige Gedankenarbeit des Kommissars störte. Sollte sich jedoch herausstellen,
dass Van Veeteren wirklich dort oben irgendwo hilflos herumlag, dann wäre das natürlich schlimm... aber lieber als rettender Engel auftauchen denn als unwillkommener und verfrühter Eindringling.
    Dachte Polizeirat Münster und schloss die Augen. Aus der Kirche war das eintönige dumpfe Psalmodieren der sonntäglichen Predigt zu hören. Er hatte die ganze Herde – an die zwanzig fromme Seelen – nacheinander über den frisch geharkten Kiesweg zum Tor schlendern sehen, wo der Hirte sie persönlich mit Handschlag und salbungsvollem Lächeln empfangen hatte. Münster hatte diskret versucht, sich im Hintergrund zu halten, aber natürlich hatte der Geistliche ihn entdeckt und seinen gebieterischen und rufenden Blick in ihn gebohrt. Wer war er, dass er vor dem Tempeltor herumlungerte?
    Aber er hatte standgehalten. Die übrigen Lämmer waren brav und langsam hineingezogen. Der Hirte als Letzter. Die Glocken läuteten zehnmal, ein Schwarm ihrer Behausung verwiesener Tauben verließ den Glockenturm, und der Gottesdienst nahm seinen Lauf.
    Ungewöhnlich hohes Durchschnittsalter, hatte Münster festgestellt, nachdem die Tür geschlossen worden war. Er wusste auch, dass diese treuen Seelen ihre Beziehung zur Kirche innerhalb der nächsten zehn oder höchstens fünfzehn Jahre auf Dauer zementieren würden. Indem sie sich auf dem Friedhof zur letzten Ruhe betteten, natürlich.
    Oder sich wohl eher betten lassen würden.
    Und an einem solchen Tag hätte er sie fast ein wenig beneiden können. Jedenfalls nahm er an dieser gepflegten Beisetzungsstätte zumindest etwas von Ruhe Erfülltes und Verklärtes wahr, hier bei der uralten Steinkirche mit dem frisch gedeckten profanen roten Ziegeldach und der schwarzlackierten Turmspitze. Hier gab es offenbar keinen strengen, strafenden Gott. Keine Posaunen des Jüngsten Gerichts. Keine ewige und unwiderrufliche Verdammnis.

    Nur Güte, Versöhnung und Vergebung der Sünden.
    Gnade?
    Doch dann tauchte Synn auf und unterbrach (oder vervollständigte?) seine frommen Gedanken. Das Bild ihres nackten Leibes, wie sie zusammengerollt und auf der Seite in einem sommerwarmen Bett lag... die Knie angezogen und die dunklen Haare wie einen Fächer über Kissen und Schultern gebreitet; dieses Bild erfüllte ihn mit einer anderen Art von Zärtlichkeit, mit demselben wehrlosen Glücksgefühl wie am Küchentisch vor einigen Stunden vielleicht. Mit derselben absoluten und bedingungslosen Liebe. Und schon bald erinnerte er sich natürlich an ihren Plan, sich in Gottes freier Natur zu lieben... wenn sie nur die Kinder weit genug wegschicken könnten, wäre das sicher nicht unmöglich. Sie hatten es doch auch früher schon geschafft, und bald war ihm auch wieder die ein oder andere Liebesstunde eingefallen... wie sie sich im vergangenen Sommer im Ruderboot draußen auf dem Weimaar geliebt hatten. Mitten auf dem See, mit nur dem Himmel und den Möwen als Zeugen... und ein anderes Mal, an einem frühen Morgen hoch oben auf einem griechischen Berg mit meilenweiter Aussicht auf ein tiefblaues Mittelmeer. Ganz zu schweigen vom Strand bei der Laguna Monda – sogar noch vor Barts Geburt, bei einem der allerersten Male sogar ... sie hatten in der warmen dichten Dunkelheit gelegen, der Wind aus dem Hochland war wie eine Liebkosung über ihren Leib gestrichen, über ihre unbeschreiblich weiche Haut und ihr ...
     
    Ein plötzlicher Orgelstoß ließ ihn zusammenzucken. Vermutlich sollte damit irgendein schlummerndes Lamm der Herde geweckt werden. Er öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. Ein Choral wurde angestimmt, angeführt von der durch ein Mikrofon verstärkten Stimme des Pastors strömte der Gesang durch die geöffneten Fenster und stieg ungestört
durch das Laubwerk auf in die himmlischen Sphären... um entgegengenommen und genossen zu werden, konnte man wohl annehmen, von dem jenseitigen Adressaten, für den es schließlich ganz klar und vorbehaltlos bestimmt war.
    Halleluja, dachte Münster und gähnte.
    Er richtete sich vor dem Grabstein auf und schaute auf die Uhr.
    Drei Minuten vor halb elf. Es war höchste Zeit. Er machte sich auf den Weg. Überquerte das Gräberfeld und sprang über die Mauer, vor der sein Auto stand. Als er die Tür öffnete und einsteigen

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