Das falsche Urteil - Roman
– 28. Mai 1994
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»Wir stellen die Sache jetzt ein!«
Der Polizeichef zupfte ein trockenes Blatt von einem Benjaminfikus. Van Veeteren seufzte und betrachtete die Gestalt, die da in ihrem blauen Anzug vor dem verschwommenen grünen Hintergrund stand. O verdammt, dachte er.
Obwohl das ja wohl kaum als Überraschung kam.
»Wir haben wichtigere Aufgaben.«
Ein weiteres Blatt wurde einer zögernden Analyse unterzogen. Der Kommissar schaute in eine andere Richtung. Vertiefte sich in den Anblick eines halb zerkauten Zahnstochers und wartete auf weitere Mitteilungen, die jedoch nicht erfolgten. Hiller schob sich die Brille die Stirn hoch und machte sich weiterhin an den Blättern zu schaffen. Van Veeteren seufzte noch einmal; die botanischen Neigungen des Polizeichefs waren in den unteren Stockwerken der Maardamer Wache ein festes Gesprächsthema. Es gab dort mehrere Theorien. Manchen galt dieses Phänomen als eindeutiger Ersatz für ein verwelktes Liebesleben – angeblich hatte die elegante Frau Hiller nach dem fünften Kind Schluss gesagt –, eine andere Phalanx vertrat die These, das grüne Panorama diene als Tarnung und Aufhängung für geheime Mikrofone, die jedes in diesem nüchternen und ernsten Hauptquartier geäußerte Wort sofort speicherten. Inspektor Markovic von der Fahndung vertrat bisweilen die so genannte mangelnde Sauberkeitstrainings-Theorie, aber die meisten
begnügten sich, wie Van Veeteren, mit der Feststellung, der Polizeichef hätte als Gärtner eine viel bessere Figur gemacht.
Als Obergärtner im Anzug?, fragte er sich und bohrte den Zahnstocher in den Spalt zwischen Sitz und Armlehne des Ledersessels. Warum nicht? Je mehr Zeit Hiller seinen Topfblumen widmete und je weniger er sich in die Arbeit einmischte, desto besser war das doch für alle.
Lasst den Affen im Dschungel in Ruhe, wie Reinhart so oft empfahl. Das ist doch das Angenehmste.
Aber diesmal wollte der Affe sich also einmischen. Van Veeteren strich sich behutsam über die Operationsnarbe.
»Verdammter Blödsinn«, sagte er.
Schließlich wurde einwandfrei irgendein Kommentar erwartet. Hiller fuhr herum.
»Wie bitte?«
»Muss ich wirklich deutlicher werden?«, fragte Van Veeteren und putzte sich die Nase.
Der Schnupfen war während dieser Tage gekommen und gegangen. Vielleicht war er auch allergisch gegen diese vielen seltsamen Pflanzen; vielleicht war aber auch nur der Kontakt mit der Wirklichkeit nach seinem Krankenhausaufenthalt zu viel für ihn.
Und das eine brauchte das andere natürlich nicht auszuschließen. Der Polizeichef setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
»Wir haben eine Leiche«, sagte er. »Ohne Kopf, Arme und Beine.«
»Hände und Füße«, korrigierte Van Veeteren.
»Neun Monate alt inzwischen. Nach fünf Wochen Arbeit habt ihr feststellen können, dass es sich vielleicht um Leopold Verhaven handelt, zweimal als Frauenmörder vorbestraft. Um einen der berüchtigtsten Verbrecher hier zu Lande. Und sonst habt ihr nichts.«
Der Kommissar faltete sein Taschentuch zusammen.
»Die einzige überzeugende Theorie«, fuhr Hiller fort und
fing an, eine goldglänzende Büroklammer gerade zu biegen, »ist, dass es sich um eine Rachegeschichte handelt. Jemand aus seiner Gefängniszeit hat nach seiner Entlassung auf ihn gewartet und ihn aus irgendeinem Grund umgebracht... vielleicht nach einem Handgemenge, vielleicht aus purem Versehen. Auf jeden Fall wäre es unvertretbar von uns, noch mehr Geld zu investieren als ohnehin schon. Wir haben dringendere Fälle zu klären als solche Hintertreppengeschichten.«
»Verdammter Blödsinn«, sagte Van Veeteren noch einmal.
Hiller brach die Büroklammer durch.
»Könnte der Kommissar so verdammt nett sein und ein wenig deutlicher werden?«
»Gerne«, sagte Van Veeteren. »Du hast doch Anweisungen erhalten, oder?«
»Was für Anweisungen?«
»Bezüglich Verhaven.«
Der Polizeichef hob die Augenbrauen und versuchte ein verständnisloses Gesicht zu machen. Van Veeteren schnaubte.
»Du vergisst, mit wem du redest«, sagte er. »Ist dir Klemkes Rasiermesser bekannt?«
»Klemkes Rasiermesser?«
Jetzt war das Erstaunen echt.
»Ja. Einfache Verhaltensregeln für zivilisierte und intelligente Gespräche.«
Hiller schwieg. Van Veeteren ließ sich zurücksinken und schloss für zwei Sekunden die Augen, dann sprach er weiter. Dem kann ich auch gleich eine Salve verpassen, dachte er. Das ist ihm schon länger nicht mehr passiert.
Er räusperte sich und legte los.
»Zu
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