Das falsche Urteil - Roman
Marktplatz, konnte ihn aber nirgendwo entdecken ... und sie wollte doch wie durch Zufall mit ihm zusammenstoßen. Durch ein glückliches Zusammentreffen ... wollte vielleicht ein wenig wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen.
Oder wäre es besser, direkt zur Sache zu kommen? Schwer zu entscheiden. Verhaven war nicht gerade ein pflegeleichter Umgang.
Sie bezog unterhalb des Denkmals in der Zwille Posten, denn von dort aus hatte sie den Lieferwagen und den unteren
Teil des Marktplatzes im Blick. Setzte sich auf eine Bank unter der Torres-Statue, nahm sich eine Zigarette und fing an zu warten. Die bleiche Herbstsonne stand jetzt über den Hausdächern und traf ihren Rücken und ihren Nacken mit warmen Strahlen, was ihr trotz allem ein gewisses Gefühl von Hoffnung und Wohlbefinden einflößte. Plötzlich wurde sie wieder zur Katze in der Sonne, und als sie die ersten verstohlenen Blicke des einen oder anderen vorüberkommenden Herren registrierte, machte sie sich automatisch ein wenig an ihrer Kleidung zu schaffen, nahm den Schal ab, knöpfte ihre Bluse ein wenig weiter auf, öffnete die Knie gerade um die Zentimeter, die jeder Mann, der diesen Namen verdient, bemerkt, ohne das selber zu wissen ...
Das hier bin ich, dachte sie. Für das hier bin ich geschaffen, und ich mache das besser als irgendeine andere Frau auf der Welt.
Das war übertrieben, das wusste sie, aber im Moment brauchte sie alles Selbstvertrauen, das sie sich einreden konnte.
Sie schaute auf die Uhr.
Zwanzig vor zehn.
Ihr blieben weniger als zwei Stunden zu leben.
Um Viertel vor tauchte er auf.
Rasch erhob sie sich. Überquerte die Straße und begegnete ihm in dem Moment, als er um die Ecke bog.
»Leo«, sagte sie und fand, es klinge genauso überrascht, wie sie sich das wünschte.
Er blieb stehen. Nickte wie immer ein wenig schroff. Als habe sie ihn bei einer wichtigen Überlegung oder in einem interessanten Gedankengang unterbrochen. Er hob immerhin einen Millimeter die Mundwinkel hoch. Vielleicht gab es also Hoffnung.
Sie trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf den Arm. Lächelte noch immer. Sie waren bisher... sie rechnete kurz
nach und fragte sich, was sie jetzt sagen sollte... sechsmal zusammen gewesen. Er war von der heißen Sorte, Vorspiel und Romantik und das alles interessierten ihn nicht weiter. Leicht zu starten, schwer zu fahren, wie ihre Freundin Nellie immer sagte.
»Wo willst du denn hin?«, fragte sie.
Verhaven zuckte mit den Schultern. Offenbar nirgendwohin. Auf jeden Fall hatte er nichts Wichtiges vor.
»Können wir uns nicht treffen?«
»Jetzt?«
»Ja. Ich bin gleich kurz mit einer Freundin verabredet, aber danach vielleicht?«
Wieder zuckte er mit den Schultern. Kein gutes Zeichen, das wusste sie, aber ihr blieb ja keine Wahl.
»Ich habe ein kleines Problem.«
»Wirklich?«, fragte Verhaven.
Sie zögerte. Sah ein wenig traurig aus, während sie mit der Hand über seinen Oberarm strich.
»Was denn für ein Problem?«
»Ein kleines Geldproblem.«
Er schwieg. Sein Blick ließ sie los und schaute über ihre Schulter ins Leere.
»Würdest du mir helfen?«
Ziemlich gute Frage, immerhin. Genau das richtige Verhältnis zwischen Bitte und Stolz.
»Wie viel?«
»Zweitausend Gulden.«
»Scher dich zum Teufel.«
Sie keuchte auf.
»Aber lieber Leo ...«
»Ich hab jetzt keine Zeit mehr.«
Sie fasste ihn jetzt auch mit der anderen Hand an. Sprach ihm direkt ins Gesicht.
»Verdammt«, sagte sie. »Es steht so viel auf dem Spiel, Leo. Du bekommst jeden...«
»Lass mich los!«
Er befreite sich aus ihrem Griff. Sie trat einen Schritt zurück. Biss sich hart in die Oberlippe und konnte innerhalb weniger Sekunden Tränen in ihre Augen zwingen.
»Leo...«
»Mach’s gut.«
Er schob sie beiseite und ging weiter. Sie fuhr herum.
»Leo!«
Er blieb nicht einmal stehen. Ging einfach weiter geradeaus und bog dann in den Kreugerlaan ab. Verdammt.
Verdammte Pest!
Ihre Tränen waren jetzt fast echt. Sie trat einige Male mit dem Fuß auf und biss die Zähne zusammen. Verdammt!
Gleich neben ihr bremste ein Auto. Der Fahrer beugte sich hinüber und kurbelte das Seitenfenster hinunter.
»Kommst du mit?«
Ohne nachzudenken riss sie die Tür auf und sprang hinein.
Als sie sich mit Hilfe seines angebotenen Taschentuches die Tränen abgewischt hatte, sah sie, mit wem sie es zu tun hatte.
Und sie sah auf die Uhr.
Zehn vor zehn.
Vielleicht würde sich doch noch alles in Ordnung bringen lassen.
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23.
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