Das falsche Urteil - Roman
Grunde liegt die Vorstellung von Gleichgewicht. Du darfst von deinem Gesprächspartner nicht mehr verlangen als du selber zu geben bereit bist. Personen mit Entscheidungsbefugnis, Machtmenschen und ganz allgemein Streber
wollen ja immer gern ein wenig mit einer Art von demokratischer Politur glänzen... weiß der Teufel, warum, eigentlich, aber in den Medien macht sich das natürlich gut. Es soll sich wie eine gemeinsame Überlegung anhören oder wie ein Gesprächsergebnis, während sie in Wirklichkeit einfach einen Befehl erteilen. Dahinter steckt irgendein vages Vergnügen, nehme ich an, sogar alte Nazigrößen haben den Text doch gern auf diese Weise ausgelegt... mit mildem, väterlichem Tonfall, während sie den Leuten die Seidenschnur schickten, nimm das jetzt bitte nicht persönlich, nur...«
»Jetzt reicht es«, fauchte der Polizeichef. »Erklär mir, wovon, zum Teufel, du da redest. Und das bitte im Klartext!«
Van Veeteren fischte sich noch einen Zahnstocher aus der Brusttasche.
»Wenn auch die Antwort im Klartext erfolgt.«
»Natürlich«, sagte Hiller.
»Na gut. Du brauchst eigentlich nur mit ja oder nein zu antworten. Meiner Ansicht nach ist die Lage so: Leopold Verhaven wurde ermordet. Für alle Beteiligten – und hierbei denke ich vor allem an Justizwesen, Polizei, die Allgemeinheit und deren tief verwurzelten Respekt vor unserem mehr oder weniger funktionierenden Rechtssystem und alles, was dazu gehört – wäre es natürlich verdammt tröstlich und angenehm, wenn wir feststellen könnten, dass es sich hier einfach um eine Auseinandersetzung unter Gaunern handelt. Und einen Strich ziehen. Die Sache vergessen und weitermachen. Auf diesen alten verstümmelten Knastbruder scheißen und lieber unsere Gesellschaftsordnung und andere Mythologien aufrechterhalten...«
»Aber?«, fiel Hiller ihm ins Wort.
»Es gibt einen Haken«, sagte Van Veeteren.
»Und welchen?«
»Das hier ist keine Auseinandersetzung unter Gaunern.«
Hiller schwieg.
»Leopold Verhaven wurde ermordet, weil er die Morde,
für die er verurteilt worden war, nicht begangen hatte, und weil er den wahren Täter kannte.«
Zehn Sekunden vergingen. Die Glocken unten in der Oudekerk fingen an zu läuten. Hiller faltete die Hände auf seiner schweinsledernen Schreibunterlage.
»Kannst du das beweisen?«, fragte er.
»Nein«, sagte Van Veeteren. »Schon gar nicht dann, wenn wir die Ermittlungen einstellen.«
Hiller rieb die Daumen aneinander und versuchte die Stirn zu runzeln.
»Du begreifst das ebenso gut wie ich«, sagte er nach einer Weile. »Unter bestimmten Umständen... unter bestimmten Umständen also muss ganz einfach der Gemeinnutz Vorrang haben. Wenn es dir nun gegen alle Wahrscheinlichkeit gelingen würde, in dieser alten Geschichte einen neuen Mörder aufzuspüren, wer würde sich dann darüber freuen?«
»Ich«, sagte Van Veeteren.
»Du zählst nicht«, sagte Hiller. »Aber geh alle anderen Beteiligten durch und überleg, ob jemand etwas davon hätte. Also, wollen mal sehen. Die ermordeten Frauen? Nein. Verhaven? Nein. Polizei und Gerichtswesen? Nein. Allgemeinheit und Rechtsbewusstsein? Nein!«
»Der Mörder? Nein«, sagte Van Veeteren. »Vergiss den nicht. Der wird sich am allermeisten von allen freuen, wenn er ungeschoren davonkommt. Drei Morde, aber eingebuchtet wird er nicht... nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht!«
Hiller setzte seine Brille auf. Beugte sich über den Schreibtisch und ließ einige Sekunden verstreichen.
»Es gibt keinen anderen Mörder als Verhaven«, erklärte er schließlich energisch. »Der Fall ruht, weil es uns an Spuren und konkreten Beweisen fehlt. Er ruht!«
»Du befiehlst mir also, einen Dreifachmörder frei herumlaufen zu lassen?«
Der Polizeichef gab keine Antwort. Ließ sich wieder zurücksinken. Der Kommissar erhob sich aus seinem Sessel.
Steckte die Hände in die Taschen und wippte auf seinen Schuhsohlen hin und her. Wippte und wartete.
»Weißt du, dass es so ist?«, fragte endlich Hiller.
Van Veeteren schüttelte den Kopf.
»Ich ahne es«, sagte er. »Ich weiß es noch nicht.«
»Und du ahnst auch, wer es war?«
Van Veeteren nickte und zog sich langsam zur Tür zurück. Der Polizeichef rieb wieder die Daumen aneinander und starrte die Tischplatte an.
»Moment noch«, sagte er, als der Kommissar schon nach der Türklinke gegriffen hatte. »Wenn du... ja, wenn du wirklich etwas finden solltest, was vor Gericht Bestand hat, sieht die Sache natürlich anders aus. Das
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