Das falsche Urteil - Roman
Schlimmste wäre, etwas loszustoßen, was wir danach nicht zu Ende führen können. Ein Angeklagter, der freigesprochen wird... du kannst dir doch wohl vorstellen, was dann los wäre, hoffe ich. Vierzehnhundert Journalisten, die zuerst Korruption und Justizirrtum im Fall Verhaven anprangern und dann von Inkompetenz und Machtmissbrauch und weiß der Teufel was noch alles reden... wenn wir den richtigen Mörder laufen lassen müssen, weil wir keine brauchbaren Beweise haben. Das ist dir doch wohl klar. Du kannst dir doch wohl denken, was für eine Suppe wir dann auslöffeln müssten.«
Van Veeteren gab keine Antwort. Der Polizeichef schwieg noch eine Weile, biss die Zähne zusammen und spielte mit seiner Armbanduhr. Dann erhob er sich und kehrte dem Kommissar den Rücken zu.
»Du musst dich selber darum kümmern. Münster wird von heute ab Reinharts Gruppe zugeteilt... ich will nichts wissen.«
»Passt mir sehr gut«, sagte Van Veeteren. »Übrigens bin ich krankgeschrieben.«
»Nicht dein Kopf würde hierbei rollen, ich hoffe, auch das ist dir klar. Ich kann im Moment keinen unnötigen Ärger brauchen, verdammt noch mal.«
»Verlass dich auf mich«, sagte Van Veeteren. »Du kannst dich deinen Topfblumen widmen. Man soll sein Bäumlein pflanzen ...«
»Was?«, fragte der Polizeichef.
Perlen vor die Säue, dachte der Kommissar und verließ den Raum.
35
»Erzählen Sie von der Krankheit«, bat er.
Sie nahm das verschnupfte Mädchen auf den Schoß und blickte ihn misstrauisch an.
Kein Wunder. Seine Tarnung war nicht gerade ein Meisterwerk – ein siebenundfünfzigjähriger Dozent, der eine Untersuchung über bei der Geburt entstandene Hüftschäden durchführt! Was für ein Einfallsreichtum! Er hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, sich vorher über einige Einzelheiten zu informieren; er wollte vortäuschen, dass es ihm vor allem um die statistischen Erhebungen ging. Sozialmedizin, hatte er erklärt. Er hatte sich einen Fragebogen gemacht, der natürlich keiner genaueren Untersuchung standhalten würde, der aber dennoch – wenn er ihn mehr oder weniger in dem aufgeschlagenen Ordner versteckte – einen gewissen Eindruck von Professionalität vermitteln müsste.
Das versuchte er sich zumindest einzureden. Und was die Frau dachte, war im Grunde auch egal. Wenn sie nur seine Fragen beantwortete, konnte sie jedes Misstrauen hegen, das ihr gerade passte.
»Was möchten Sie denn wissen?«, fragte sie.
»Wann hat es angefangen?«
»Bei meiner Geburt natürlich.«
Er machte ein Kreuz in seinen Fragebogen.
»Von welchem Jahr ab war sie bettlägerig?«
Sie dachte nach.
»1982, glaube ich. Ganz und gar, meine ich. Auch vorher hat sie meistens im Bett liegen müssen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie nach Weihnachten 1981 noch einen Schritt machen oder auch nur aufstehen konnte. Ich bin im Juni 1982 von zu Hause ausgezogen...«
»Hat sie jemals einen Stock benutzt?«
»Nie.«
»Hatten Sie nach Ihrem Umzug noch viel Kontakt zu ihr?«
»Nein. Was hat das mit Ihrer Untersuchung zu tun?«
Er hätte sich auf die Zunge beißen können.
»Wir möchten uns einfach auch ein Bild von den Beziehungsfragen machen können«, erklärte er. »Sie sagen, dass sie von 1982 bis zu ihrem Tod ganz und gar bettlägerig war?«
»Sicher.«
»Wo hat sie während der letzten Jahre gelebt?«
»In Wappingen. Zusammen mit einer Barmherzigen Schwester in einer kleinen Wohnung. Sie hatte sich von meinem Vater scheiden lassen, ich glaube, sie wollte ihm nicht mehr zur Last fallen oder so ... so ähnlich muss es gewesen sein.«
»Haben Sie sie besucht?«
»Ja.«
»Wie oft?«
Sie dachte nach. Die Kleine jammerte wieder los. Ließ sich auf den Boden rutschen und versteckte sich vor seinem Blick.
»Dreimal«, sagte sie. »Es ist ziemlich weit«, fügte sie zu ihrer Entschuldigung hinzu.
»Und ihr Zustand?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ging es ihr?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Wie immer. Sie kam mir ein wenig fröhlicher vor.«
»Aber bettlägerig?«
»Ja, sicher.«
O verdammt, dachte Van Veeteren. Irgendetwas stimmt hier nicht.
Als er in das scharfe Sonnenlicht hinaustrat, überkam ihn ein kurzer, aber heftiger Schwindelanfall. Er musste sich am Eisengeländer festhalten, das sich an der ganzen Reihenhauskette entlangzog, und dabei kniff er die Augen zusammen und versuchte, sich wieder zu fassen.
Ich brauche ein Bier, dachte er. Ein Bier und eine Zigarette.
Zehn Minuten später hatte er
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