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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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mir die Tränen, und dann heule ich mir hinter dem Steuer meines Saab 9.3 die Augen aus dem Kopf, denn der Geschäftstermin Ihres Mannes, dieser lebenswichtige Termin, war nicht wichtig (wie konnten Sie auch nur einen Augenblick lang glauben, solche Dinge seien wichtig?), und für die halbe Stunde oder für die halbe Woche, in der Ihr Bruder frisch verstorben ist, liebt er Sie vorbehaltlos.
    Ich sollte wohl besser anhalten, aber ich halte nicht an – die gesamte Strecke fahre ich unter Tränen. Auf der Collins Avenue schaut ein Mann, der im Gegenverkehr stecken geblieben ist, zu mir herüber, wie ich in meiner exklusiven Blechkiste vor mich hin schluchze und würge. Er ist nicht einmal einen Meter von mir entfernt. Er ist einfach da. Er wirft mir einen unendlich mitleidvollen Blick zu und fährt dann weiter. So etwas ist uns allen schon einmal passiert.
    Und als ich auf die Autobahn fahre, verblüfft mich nicht etwa, dass jeder irgendwen verliert, sondern dass jeder irgendwen liebt. Das kommt mir vor wie eine gewaltige Energieverschwendung, aber wir alle tun es, all die Menschen, die hier zwischen den weißen Linien entlangflitzen, sich einfädeln, einreihen, einander überholen. Wir alle lieben jemanden, obwohl dieser Jemand sterben wird. Und wir lieben ihn auch dann noch, wenn er nicht mehr da ist, um sich lieben zu lassen. Und all das entbehrt, soweit ich sehe, jeder Logik und jeden Sinns.
    Im Flughafenparkhaus drehe ich Runde um Runde, Stockwerk um Stockwerk, bis ich mich unter offenem Abendhimmel befinde. Liam hat mich deshalb immer ausgelacht. Alle haben mich deshalb ausgelacht. Meine Art, stets dort zu parken, wo ich den Flugzeugen am nächsten bin, und das ist oben auf dem Dach, draußen im Regen.
    Ich stelle den Motor ab und beobachte die Tropfen, die an der Windschutzscheibe herabrinnen.
    Als ich ihn das letzte Mal hierherbrachte, konnte ich es gar nicht erwarten, dass er endlich ging.
    Ernsthaft. Beim letzten Mal saß ich einen Moment lang still, blickte geradeaus, und die massige Gestalt neben mir auf dem Beifahrersitz war schon eindrucksvoll: seine dunkle Körpermasse, als ich mich umwandte, um mit dem Bruder zu sprechen, den ich kannte – Gott! Dieses graue Ding in einem ungewaschenen Hemd, dieser furchtbare alte Sack, zu dem ich mich umwandte und sagte: »So. Noch viel Zeit.«
    Ich begleitete ihn bis zur Sicherheitskontrolle und sah ihm nach, als er hindurchging. Ich überlegte, ob es ihm wohl möglich wäre, wieder umzukehren. Und ob dies ein Gesetzesverstoß sei – wahrscheinlich nicht. Man kann doch wohl geradewegs bis zum Flugsteig durchmarschieren und sich eines anderen besinnen. Man kann sogar von seinem Sitz im Flugzeug aufspringen und den Weg zurückgehen, den man gekommen ist, zurück nach Irland, wo man jeden unglücklich machen kann, zumindest ein Weilchen.
    Gewöhnlich werden Brüder im Lauf der Zeit immer unwichtiger. Liam hatte beschlossen, dies nicht zu werden. Er hatte beschlossen, wichtig zu bleiben, bis zum Ende.
    Ein Flugzeug donnert im Tiefflug über mich hinweg, und als es verschwunden ist, klammere ich mich mit weit aufgerissenem Mund ans Steuerrad. So bleiben wir eine Weile ineinander verkrallt, ich und das Auto, dann richte ich mich wieder auf und öffne die Tür.
    Dabei – während meines stummen Schreis in meinem Saab Kabriolett auf dem Flughafenparkhaus im Regen – spüre ich, wie Liam mich auslacht. Oder besser, ich spüre, wie seine Abwesenheit mich auslacht. Denn irgendwo dort drüben auf der Seite – an einer Stelle, die man nicht richtig einsehen kann -, dort ist er unversehrt, dort ist er gar nicht. Er ist nicht unglücklich, merke ich, jetzt, da er tot ist. Aber was ich an der Basis meiner Wirbelsäule als Wärme empfinde, ist nicht nur seine Stimmung . Es ist sein verflogenes, totes, ureigenstes Selbst. Es ist sein innerster Kern, alles verschwunden oder im Verschwinden begriffen.
    Auf Wiedersehen Vee
    Auf Wiedersehen
    Auf Wiedersehen
    Ich öffne die Tür und steige aus, in den Regen.

5
    Hier ist mein Großvater Charlie Spillane, wie er die O’Connell Street hinauffährt, seiner zukünftigen Frau im Hotel Belvedere entgegen.
    Es ist halb elf an einem Dienstagabend. In der Fastenzeit. Einige wenige weltlich gesinnte Paare kommen aus dem Gresham Hotel oder dem Savoy Grill geschwankt, um die Straßenbahn zu nehmen oder zu Fuß den Heimweg anzutreten, ansonsten aber ist die Stadt ruhig. Charlies Wagen ist dunkelgrau, und wenn er unter einer Straßenlaterne

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