Das Familientreffen
Bremstrommel, die in Nugents Bude auf dem Tisch liegt.
»Mach ich«, sagt der und winkt Charlie von der Eingangstür aus nach.
Als er drinnen ist, blickt Nugent sich in seinem kleinen Zimmer um: das schmale Bett, das Fenster mit den beiden Spitzengardinen, die gescheitelt und zu beiden Seiten hochgebunden sind wie Haare vor einem kleinen, viereckigen Gesicht. Er blickt auf seinen kleinen Tisch – die kaputten Bremsen des Bullnose Morris, schön wie ein Gemälde mit Äpfeln im Mondlicht. Wie er so in der Dunkelheit steht, beginnt er sein Hemd aufzuknöpfen. Knopf um Knopf. Auf seiner Brust teilt sich das Hemd zu einem V. Immer weiter nach unten. Und Nugent kniet sich hin. Auf Knien zieht er es aus und schwenkt es nach hinten, sodass die Knöpfe auf seinen Rücken klatschen, einmal, zweimal, und dann spricht er seine Nachtgebete.
Da kommt sie.
Lizzy.
Seine Schwester. Jünger als er. Sie ist verstorben. Das Zimmer, in dem sie gemeinsam aufwuchsen, war von dem feuchten Rasseln ihres Brustkorbs erfüllt, dem entsetzlichen Gurgeln des Schleims und schockierend hellem Blut. Nugent kann den allabendlichen Rosenkranz nicht vergessen, aufgesagt in furchtbarer, in sicherer Entfernung von ihrem Bett. Ihre weißen Fingerknöchel, die auf der Decke nach den entglittenen Perlen tasteten, oder das dunkle Leuchten in ihren Augen, wenn sie ihn ansah, als sähe sie stracks durch seine Knochen hindurch. Seine eigene Pubertät verlief unbemerkt – auch von ihm selbst fast unbemerkt -, während sich unter ihrem Nachthemd Brüste bildeten. Sie bewegte sich mit derselben Geschwindigkeit auf den Tod wie auf ihr Frausein zu, ihre Brustwarzen wirkten wie ein schwellender Bluterguß, die Brüste wuchsen und konnten doch nicht wachsen über Lungen, die die Krankheit verhärtet hatte. Und so starb sie.
Ist das alles, woran er denken kann, während er so dakniet?
Dass sein Penis, wenn er ihn zur Nachtzeit in die Hand nimmt, sich wie ihre dünne Haut anfühlt, immer feucht, nie verschwitzt. Denn in jenen Tagen vermengten sich die Leute auf höchst widerliche Art miteinander.
6
So lebe ich mein Leben, seit Liam tot ist. Ich bleibe die ganze Nacht auf. Ich schreibe, oder auch nicht. Irre im Haus umher.
Nichts hier setzt sich. Nicht einmal der Staub.
Das Haus haben wir vor acht Jahren gekauft, 1990, ein neues Einfamilienhaus mit fünf Schlafzimmern. Ein Backsteinbau im Tudor-Stil mit einer Prise Queen Anne, aber Gott sei Dank hat es keinen Säulenvorbau, und die Innenwände habe ich in den Farben Hafermehl, Creme, Sandstein und Schiefer gestrichen. Das Haus ist fürs Tageslicht gemacht, deshalb lasse ich spätabends alle Leuchten an, drehe die Dimmer auf und wandere von einem Raum zum nächsten. Sie gehen nahtlos ineinander über. Und ich bin allein. Die Mädchen sind nur noch ein Echo, eine Filmkassette, die aus dem Schlitz des Videorekorders hervorlugt, ein Glitterlippenstift neben dem Telefon. Tom, mein wartungsaufwendiger Mann, ist oben und träumt seine wartungsaufwendigen Träume von Kränkung und Erlösung in der Welt der Unternehmensfinanzierung, und all das hat nichts mit mir zu tun.
Hafermehl, Creme, Sandstein, Schiefer.
Als wir einzogen, wünschte ich mir Schabracken, sogar Girlanden. Für das Erkerfenster, das nach vorn hinausgeht, wollte ich Vorhänge mit dem allergrößten Blumenmuster haben – können Sie sich das vorstellen? Als ich das Zeug endlich aufgetrieben hatte, war ich schon bei einfachen Faltrollos angelangt, und jetzt, da der Garten richtig gewachsen ist, will ich... nichts. Ich verbringe meine Zeit damit, Dinge zu betrachten und wegzuwünschen, und räume Gegenstände fort.
So lebe ich mein Leben.
Ich bleibe die ganze Nacht auf. Wenn Tom zu Hause ist, steckt er gegen halb zwölf den Kopf zur Tür des kleinen Arbeitszimmers herein und sagt: »Bleib nicht die ganze Nacht auf!« Als wüsste er nicht, dass ich nicht mit ihm schlafen werde, jedenfalls eine ganze Weile lang nicht, vielleicht sogar niemals mehr. Das alles hat in gewisser Weise etwa einen Monat nach Liams Tod angefangen: meine Weigerung, zu meinem Mann ins Bett zu kriechen, und meine Unfähigkeit, in einem anderen Bett zu schlafen als dem, das wir miteinander geteilt hatten. Denn ich will nicht, dass die Mädchen mich im Gästezimmer antreffen.
Was sonst kann ich tun? Eine Scheidung könnten wir uns nicht leisten. Außerdem will ich ihn ja nicht verlassen. Ich kann nur nicht mit ihm schlafen, das ist alles. Also wartet mein Mann darauf, dass ich
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