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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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seine grimmige Weise, vier Kinder hatte und eine Frau namens Kathleen, die wir nie zu Gesicht bekamen. Wenn Ada den Raum verließ, stand er gewöhnlich auf, ging zum Fernseher und schaltete ihn mit einem Klicken aus. Dann setzte er sich wieder hin und betrachtete uns. Nach einer Minute fischte er etwas aus seiner Tasche.
    »Es ist kein Spielzeug.«
    Aber immer war es etwas Interessantes. Einmal eine weiße Maus – oder es muss eine Ratte gewesen sein – mit roten Augen und einem rosa Schwänzchen, und er lüftete am Handgelenk meinen Pullover, damit sie durch meinen Ärmel zu meiner Brust hinaufkroch. Dann kam Ada herein und kreischte.
    Sie servierte den Tee auf einem dieser kleinen Tischchen, unter denen zwei weitere Tischchen stehen, jedes kleiner als das andere. »Leg eine Decke auf die Satztischchen«, sagte sie dann zu mir. Und Charlie sagt dies und Charlie sagt jenes, meinte sie zu Nolly May, während sie das Tablett absetzte oder ihm eine Tasse Tee reichte. Das war unser Opa Charlie, von dem sie sprach, der, wenn Nugent nicht mehr dasaß, fragte: »Um wie viel Uhr ist er gegangen? Habt ihr gesehen, ob er Geld vom Regal genommen hat?«
    Ich glaube nicht, dass Charlie trank (selbst seine Laster waren altmodisch), aber er tat alles andere. Oder auch nichts. Es war schwer zu sagen, was er eigentlich tat, außer dass er fernblieb. Und manchmal kam er in anderen Kleidern zurück.
    »Ah, er hat sie wie eine Königin behandelt«, wie sie beim Leichenschmaus mit Wurstaufschnitt sagten. Sie hatten eine Geschichte, Ada und Charlie, so viel steht fest, eine Geschichte, in der jeder von ihnen die wichtigste Rolle spielte, und wenn sie quer durchs Zimmer auf ihn zuging, konnte man sehen, wie schicksalhaft sie sich fühlten, als sei ihnen ihre Liebe eine große Last und nicht nur eine Freude.
    Einmal kam ich in die gute Stube, und sie saßen, jeder an einem Ende, auf dem Sofa, er hatte ihren Altfrauenfuß auf dem Schoß und massierte ihn durch den hauchdünnen Stoff ihres Strumpfes.
    Ich kann Ihnen nicht sagen, was Nugent beruflich machte, aber irgendwie hat sich in meinem Kopf die Idee festgesetzt, dass er Buchmacher oder Angestellter eines Buchmachers war, dass er hin und wieder einen grauen Kaschmirmantel überzog, in ein schwarzes Auto stieg und zum Rennplatz chauffiert wurde. Eigentlich weiß ich nur, dass er die Garage hinten für seine alten Karren benutzte und dass man nie wusste, ob er da war oder nicht. Ich dachte – falls ich damals überhaupt etwas dachte -, dass Ada ihm deshalb erlaubte, die Garage zu benutzen, weil sie kein eigenes Auto hatte und weil Charlie zu jener Zeit nicht mehr fuhr.

16
    Hier sind sie nun alle und fahren endlich zum Pferderennen. Es ist Ostermontag, und jedes Auto in Dublin befindet sich in einem Konvoi auf dem Weg nach Fairyhouse, in der O’Connell Street stehen aufgereiht die Ausflugsomnibusse, und vom Bahnhof in Broadstone geht alle zwanzig Minuten ein Zug.
    Die trüben Tage der Fastenzeit sind vorbei, die Missionsarbeit der Legion war ein triumphaler Erfolg, die Bordelle sind von der Polizei gestürmt, mit Weihwasser besprenkelt, von Frank Duff ausbezahlt und geschlossen worden. Eine große kirchliche Prozession war abgehalten und in der Purdon Street ein Kreuz errichtet worden, von unserem Mann höchstselbst, der sich dazu auf einen Küchentisch gestellt und mit einem erstaunlich großen Hammer den Nagel eingeschlagen hatte. Zwanzig Mädchen wurden in das Heim Sancta Maria umgefüllt und oben und unten gleichzeitig ausgetrocknet. Alle hatten gebetet, Tag und Nacht und Nacht und Tag, bis sie es leid waren. Der ganzen Stadt stand es bis hier, sie hatten sich Asche aufs Haupt gestreut, die Zuchtrute geküsst und fühlen sich nun wahrhaftig und vollständig spirituell gereinigt . Ostern steht vor der Tür, Herrn Jesu sei Dank, und wenn sie gegessen und gelacht und die Osterglocken bewundert haben, gehen sie zu Bett und lieben sich (vierzig Tage sind eine lange Zeit) und schlafen sich richtig aus, und am nächsten Morgen gehen sie alle zum Rennen.
    Es ist Ostermontag, eine noch heikle Zeit. Es ist der Tag, an dem Christus zu der Frau im Garten sagt: » Noli me tangere .« Rühre mich nicht an! Es ist noch zu früh. Es ist noch zu früh, um berührt zu werden.
    Ach, Nolly May.
    Obwohl Ada vielleicht einen Versuch unternimmt. Vielleicht vergisst sie einen Augenblick lang, dass Charlie derjenige ist, den sie für immer lieben wird, und gibt sich mit Nugent alle Mühe. Schließlich ist

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