Das Familientreffen
Abschlussprüfung. Und obwohl es auf seine Weise was zum Lachen war, wirkte es sich doch auf mein Examen aus – und mit dem Examen war mir ernst. Vielleicht fühlte ich mich deshalb so unbeteiligt: Da saß ich nun in der Küche und dachte über Robespierre nach, ganz zu schweigen von Frank Duff, und mein Vater geriet in Wut – er war ein kleiner Mann, Daddy -, und ich vermute, dass ich an dem Geschrei meinen gerechten Anteil hatte, aber ein Teil von mir betrachtete ihn nur, wie er wutgeifernd dastand, mit rotem Nacken und kalkweißem Gesicht, dann kochte die Röte um seine blauen Augen auf, bis sein Gesicht plötzlich über und über rot war und er lostobte. Dann war da auch noch die rote Kuppel seines kahlen Kopfes zu sehen. Ich weiß noch, wie ich dachte, das glaubt er doch selbst nicht, was er da sagt, und dass es dieser Mangel an Überzeugung war, zusammen mit meinem eigenen Mangel an Überzeugung, was ihn bis zum Äußersten trieb.
Wieder in Belfield. Meine beste Freundin, Deirdre Moloney, war aus keinem ersichtlichen Grund von ihrer Mutter auf die Straße gesetzt worden, ein ziemlich zurückhaltendes Mädchen, das nur zweimal in ihrem Leben Sex gehabt hatte. In ganz Dublin wurden Kinder rausgeschmissen. Zu jener Zeit waren alle unsere Eltern verrückt. Wir wurden erwachsen, und allein der Geruch reichte hin, um sie vollkommen in den Wahnsinn zu treiben.
Ein paar Wochen lang konnte Daddy mich nicht einmal ansehen, und das tat mir an der Papa-hat-sein-kleines-Mädchen-lieb-Stelle weh, an der Stelle, wo man Vertrauen hat und flirtet. Aber obwohl es wehtat, fand ich heraus, dass ich auf ältere Kränkungen als diese zurückgreifen konnte – und das half mir zu überleben. Dies ist die Art, wie wir alle überleben. Wir besinnen uns automatisch auf die älteste Narbe.
Heute tut es weh, dass Daddy tot ist. Er starb 1986. Er ist also nie in ein Geschäft gegangen, wo Kondome gleich neben der Registrierkasse verkauft werden. Er brauchte also nie umzulernen, nicht einmal geringfügig. Ich denke auch an ihn, wenn ich die Sepiaschale betaste, die Rebecca am Strand gefunden hat, denn sie erinnert mich an einen Mangokern, an die Tatsache, dass, als Daddy starb, niemand in Irland Mangos aß, obwohl ich glaube, auf Kiwis waren alle schon ganz wild. Und ich habe das Gefühl, ihn wegen der Mangos trösten zu müssen. Ihn trösten zu müssen wegen der Entfernung, die wir von der Stelle zurückgelegt haben, an der er stehen geblieben war.
Sein Geist, nebenbei gesagt, würde keinen Pfifferling darauf geben, mit wem ich geschlafen habe. Sein Geist ist jenseits von Sex. Und manchmal glaube ich, dass auch ich es bin.
Immerhin war da Michael, vor dem Sturm, Michael, der meinem Vater die Hand schüttelte, und mein Vater fragte nicht etwa: »Weiss? Was soll denn das für ein Name sein?«
Ich, wie ich in einem bronzefarbenen Kleid von Jenny Vander, in dem ich vermutlich ziemlich hübsch aussah, in die Küche kam. Wir beide, wie wir uns von dem Haus entfernten, in dem ich aufgewachsen war, und Michael Weiss vor Freude ganz außer sich.
»Ich glaub’s einfach nicht«, sagte er. »Ich kann’s einfach nicht glauben. Alles, was du erzählt hast. Alles ist wahr.«
Und ich war – bin es selbst jetzt noch, da ich dies niederschreibe – zutiefst beschämt.
15
Adas Eingangstür ging direkt auf die Straße. Kein Garten und kein Weg führten zu ihr, deshalb kamen die Leute ganz dicht am Haus vorbei, ohne je einzutreten. Diese Anordnung war ebenso unerbittlich wie Ada selbst, und ebenso aufregend. Meiner Meinung nach haderte sie stets mit der Welt.
Im Sommer bedeckte die Tür ein cremefarbenes Segeltuch mit breiten und schmalen rostfarbenen Streifen. Darin war eine waagerechte Öffnung für den Briefkasten geschnitten, ein langer Schlitz für den Türklopfer und ein kleines, rundes Loch für die Klingel. Wenn man das Tuch anhob, war die Tür darunter flaschengrün angestrichen.
Das Haus war Teil einer Zeile identischer kleiner Häuser, die spiegelbildlich angeordnet waren, sodass die Eingangstüren sich paarweise aneinanderschmiegten. Wir schliefen hinten im Haus. Ich weiß noch, wie ich am Schlafzimmerfenster stand und auf die kleine Garage am Ende von Adas schmalem Garten und auf das Gässchen dahinter blickte. Wir mussten uns zu dritt zwei Betten teilen, ein breites für die Mädchen und ein schmales für Liam. Die Tapete hatte ein Muster aus knollenförmigen, leicht metallisch wirkenden blaugrünen Blumen, unter meinem festen
Weitere Kostenlose Bücher