Das Feenorakel
ich klein war, fand ich ihre Besuche ganz toll. Meine Eltern mussten viel arbeiten und die Babysitter und Kindermädchen, die sie eingestellt hatten, saßen lieber vor dem Fernseher, als mir vorzulesen oder Geschichten zu erzählen.»
Alva sah sie vor sich, die endlose Reihe junger Frauen, die ihr Vater engagiert hatte, um den Haushalt zu führen und nebenher noch ein kleines, störrisches Mädchen zu beaufsichtigen. «Nein, das ist ungerecht. Einige waren sehr nett und haben sich wirklich Mühe gegeben. Ich glaube, ich war ein schwieriges Kind. Eigentlich wollte ich immer nur im Garten spielen.»
«Die Frau ...», erinnerte Julen sie mit leiser Stimme.
«Entschuldige. In den ersten Jahren kam sie nur, wenn ich allein war. Später hatte ich oft das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich weiß nicht, ob du das kennst. Du siehst eine Bewegung, einen Schatten aus dem Augenwinkel, und wenn du dich umdrehst, dann ist da niemand. Manchmal kam ich mir ziemlich blöd vor.»
Sie ertappte sich dabei, wieder ihre Nase bearbeiten zu wollen, die sich schon ein bisschen wund anfühlte vom vielen Kneten und Reiben, und verschränkte die Finger sicherheitshalber ineinander. Jetzt hält er mich für verrückt.
«Ich verstehe.»
Ruckartig hob sie den Kopf. «Tust du das wirklich?» Sie versuchte wieder, in seinem Gesicht zu lesen. Und plötzlich schien es ihr, als öffnete er sich. Er weiß, wovon ich rede! Erklärungen waren überflüssig. Er hatte Ähnliches erlebt, war sich manchmal ebenso blöd vorgekommen, weil er auch ständig jemanden in den Schatten vermutet hatte, der auf ihn lauerte.
Ihr kam es vor, als teilte sie für einen Augenblick die Verwirrung des viel jüngeren Julen und auch die Furcht, verrückt zu werden. «Wie alt bist du?» Sie hatte gesprochen, ohne nachzudenken, und fuhr erschrocken zurück, als er den Kopf ruckartig hob und sie aus seeblauen Augen ansah.
Julen hätte sich ohrfeigen können. Sie ist eine Fee, zur Hölle noch mal! , ermahnte er sich. Trotzdem hätte sie niemals in der Lage sein dürfen, seine Gedanken zu erkennen. Lag es daran, dass sein Blut in ihrem Körper kreiste? Hatte ihm Kieran etwas verschwiegen, oder wusste er vielleicht selbst nicht, welche fatale Wirkung ein winziger Tropfen Vampirblut in einer Fee haben konnte? Unsinn. Wenn überhaupt jemand darüber Bescheid wissen würde, dann sein Mentor und Freund. Schließlich lebte er seit einigen Jahren mit einer Fee zusammen.
Kannst du Gedanken lesen? , hatte sie ihn gefragt. Er war nicht ehrlich gewesen. Können ja, doch er wollte es nicht. Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Die kurzen Einblicke, die er sich gönnte, waren verzeihlich.
In die vollkommen ungeschützten Gedanken eines Sterblichen einzudringen war für Julen einfach. Bei Alastair hatte er ohne große Bedenken davon Gebrauch gemacht. Normalerweise respektierte er die Privatsphäre anderer allerdings.
Sein Blut in Alvas Adern hatte ihm ohnehin schon Vieles über sie verraten. Ein Vorteil, den er bisher dazu genutzt hatte, über sie zu wachen.
Dabei war das Gedankenlesen eine schwierige Sache, die keineswegs jeder Vampir beherrschte. Es funktionierte am besten über Bilder und konnte sowohl behutsam als auch brutal, einer Vergewaltigung gleich, ausgeführt werden. Ganz gleich, wie man vorging, ein solcher Besuch hinterließ Spuren.
Ungleich eleganter, und vom Objekt des Interesses gänzlich unbemerkt, war eine zweite Methode, der sich Julen vorzugsweise bediente. Genau wusste er nicht, wie sie funktionierte, aber er sah häufig die Gedanken seines Gegenüber noch genauer, als wäre er in ihn eingedrungen, um sie zu lesen. Vielleicht lag es daran, dass die komplexe Zusammensetzung des typischen Dufts einer jeden Person sich ähnlich wie eine Aura veränderte und dem jeweiligen Gemütszustand anpasste. Darüber hinaus waren Mimik und Körperhaltung verräterische Begleiter. Es bedurfte schon eines besonderen Talents oder der jahrhundertelangen Erfahrungen eines magischen Wesens, sie vollkommen zu beherrschen oder gar zu manipulieren und auf diese Weise seinen Gegner in die Irre zu führen.
Bei Alva war gar nicht daran zu denken, dass sie eine vergleichbare Selbstbeherrschung besaß, und trotzdem ahnte er, dass es Bereiche in ihrem Inneren gab, zu denen er zum jetzigen Zeitpunkt keinen Zutritt hatte. Er hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie selbst nicht wusste, was dort in ihr schlummerte und wie es zu erwecken war, hatte aber keinen Zweifel, dass er in
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