Das Feenorakel
der Lage sein würde, sich Zugang zu verschaffen, sollte dies jemals notwendig sein.
Sie war aufgestanden und stand nun am Fenster. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Schultern angespannt. Mit leiser Stimme sprach sie schließlich weiter. «Bei all dem Kommen und Gehen war ich oft einsam. In Nienibits Gegenwart habe ich mich immer behütet gefühlt.» Ihr Lachen klang verlegen. «Nachdem meine Mutter gekündigt und sich selbständig gemacht hatte, kam Nienibit seltener. Aber da war ich ja auch schon längst kein kleines Kind mehr und meine Tage waren ausgefüllt, so dass ich abends müde ins Bett fiel und sofort einschlief. Wahrscheinlich hätte ich es nicht einmal mehr bemerkt, wenn sie an meinem Bett gesessen hätte.»
Julen wäre am liebsten zu ihr gegangen, als sie sich bei diesen Worten vorbeugte und ihre Stirn an die kühle Fensterscheibe presste. Es war ihm nun klar, wer Alva besucht und beschützt hatte. Weniger begreiflich war ihm, warum ihre Fairygodmother , mit anderen Worten ihre Feenpatin, sich dem Mädchen zu erkennen gegeben hatte. «Kannst du dich an ihre Geschichten erinnern?»
«Merkwürdig, dass du danach fragst. Sie sind unglaublich präsent. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll.» Halb drehte sie sich zu ihm um. «Es ist fast so, als würden sie mich immer begleiten, irgendwie einhüllen.» Wie sie dabei mit dem Handrücken über die Nase strich, ließ ihn an ein Kätzchen denken. «Aber wenn ich dir jetzt eine davon erzählen sollte, könnte ich das nicht. Als würden sie sich mir entziehen wollen, sobald ich nach ihnen greifen will. Verrückt, oder?»
Das war es also, was ihr Unterbewusstsein vor ihm, der Welt, sogar vor ihr selbst verbarg. Ihre Feenpatin hatte ihr im Laufe der Jahre wichtiges Wissen vermittelt, es jedoch tief in ihrem Inneren verschlossen. Wahrscheinlich hatte sie es gut gemeint. In der Feenwelt gab es viele Dinge, die ein Kind nicht begreifen konnte. Nun aber war sie fast erwachsen und führte ihr eigenes, aufregendes Leben. Sie würde sich verlieben, ihre Weiblichkeit entwickeln und wäre bald reif genug, die wichtigste Entscheidung ihres Lebens zu treffen.
Julen hatte von ähnlichen Fällen gehört. Die Abgesandten der Feen machten das meist aus einem ganz bestimmten Grund, denn einige von ihnen waren in der Lage, in die Zukunft zu sehen. Er hätte gern gewusst, welches Schicksal sie für Alva vorhergesehen hatten. Doch wie immer hielten sich seine ungeliebten Verwandten mit Informationen zurück. Ärgerliche fragte er sich, warum sie dann überhaupt den Auftrag erteilt hatten, das Mädchen zu bewachen. Andererseits war es kein offizieller Auftrag an die Vengadore gewesen. Vielleicht war es nur eine besorgte Feenmutter, die selbst nicht die Möglichkeit hatte, ihre Tochter durch die schwierigste Phase ihres Lebens zu begleiten.
Aber warum dann ausgerechnet ich?
Merkwürdig auch, dass er praktisch keinerlei Informationen zu seinem Fall erhalten hatte. Das kann aber auch ein Vorteil sein , überlegte er. Wenn ich keinerlei präzise Anweisungen habe, kann ich agieren, wie es mir richtig erscheint, und muss mich nicht an irgendwelche Vorgaben halten.
«Was war das?» Alva hatte etwas gesagt, das ihn aufhorchen ließ.
«Vor etwa zwei Jahren habe ich sie zum letzten Mal gesehen, danach begannen die weißen Träume.»
Nur durch gezielte Nachfragen gelang es ihm, mehr über ihre bedrohlichen Träume zu erfahren. Die Panikattacke zu Beginn des Konzerts hatte also einen ernsthaften Hintergrund. Julen konnte nicht ausschließen, dass auch dies mit seinem Auftrag zusammenhing. Wie er von Anfang an befürchtet hatte, wurden die Dinge immer komplizierter.
Spürte Alva die Bedrohung, die ihre Angehörigen in der Feenwelt veranlasst hatten, inoffiziell um Schutz für sie nachzusuchen? Vielleicht sollte er sich einmal mit diesen Verwandten und ihren Beweggründen näher befassen. Später.
Momentan waren andere Dinge wichtiger: Alva wirkte verzweifelt und verletzlich, wie sie dort am Fenster stand und davon sprach, wie ihr die Erinnerung immer wieder entglitt, so dass er alle Vorsicht fahren ließ und zu ihr ging. Behutsam legte er die Hände auf ihre Schultern und zog sie an sich.
Seine Magie hielt er dabei in eisernem Griff, den drängenden Wunsch, ihre Sorgen und Bedenken einfach wegzuküssen ebenfalls.
Um seine Selbstbeherrschung war es allerdings nicht besonders gut bestellt, musste er sich eingestehen, sobald sie sich an ihn lehnte und dabei den Kopf in
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