Das Feenorakel
mehrstöckigen Fabrikgebäuden vermutlich zum Auftrittsort führte. Die Straßen waren hier oft sehr eng, das wusste Julen von früheren Besuchen, und es hätte ihn nicht überrascht festzustellen, dass der Bandbus ein gutes Stück weit entfernt vom Bühneneingang geparkt war.
Im Nu hatte er Chris überholt und lehnte nun mit verschränkten Armen vor ihr an der Backsteinmauer. Der erschrockene Laut, den sie von sich gab, weil er plötzlich vor statt hinter ihr war, bereitete ihm Genugtuung. Die Sorge um Alva hatte ihre Spuren auch bei Julen hinterlassen, von seiner sonst heiter wirkenden Ausstrahlung war in diesem Moment wenig zu spüren.
Kapitel 11
«Ich denke, du hast mir etwas zu sagen!» Julen hatte nicht vor, sich von Chris an der Nase herumführen zu lassen, und drang rücksichtslos in ihre Gedanken ein, bevor sie sich schützen konnte. Dass er auf den ersten Blick nichts Verdächtiges in ihrer Gedankenwelt vorfand, besänftigte ihn. Obwohl sie genau wusste, was er ihr antat, wies sie ihn nur sanft in seine Schranken und wehrte sich nicht gegen sein Eindringen.
Gut. Du wirst kooperieren. Seine eigenen Gedanken hielt er sorgfältig vor Chris verborgen, obwohl sie natürlich ebenfalls einen nicht ungeschickten Versuch machte, sich Zugang zu verschaffen.
Schließlich gab sie es auf. «Also gut, du hast gewonnen. Was willst du von mir?»
«Kannst du dir das nicht denken?» Julen war ein bisschen überrascht von ihrer Frage.
«Es ist wegen Alva, oder? Sie ist eine von uns.»
Der letzte Satz hatte unsicher geklungen, und Julen war sofort auf der Hut. «Spielst du mir hier was vor? Natürlich ist sie das. Und ich will wissen, was du mit der Sache zu tun hast.»
Die Hände in die Hüften gestemmt sah sie ihn empört an. «Vielleicht verrätst du mir, was du meinst.» Und weniger angriffslustig fügte sie hinzu: «Ich habe mir wirklich Sorgen um sie gemacht.»
Das glaubte er ihr sogar. Trotzdem machte er einen drohenden Schritt auf sie zu. «Wer ist dein Auftraggeber?»
«Auftraggeber?» Schritt für Schritt versuchte sie, den Abstand zwischen Julen und sich selbst zu vergrößern.
Gleich würde sie sich umdrehen und wegrennen wollen. Seine Jagdlust war sofort geweckt. Blitzschnell ergriff er ihre Handgelenke und presste sie hart an die Mauer. «Du sagst mir jetzt sofort, wer dich beauftragt hat, in ihrer Nähe zu bleiben!»
Chris machte nicht den Fehler, ihm ins Gesicht zu sehen, was bewies, dass sie seine Überlegenheit anerkannte. Es beruhigte seine Instinkte ein wenig, dass sie sich so ruhig verhielt, wie es ihr in dieser gefährlichen Situation möglich war. Nur ihr galoppierendes Herz verriet ihre Aufregung. «Niemand», flüsterte sie. «Ich verstehe nicht, was du von uns willst.»
«Hast du ihr das Gift gegeben?»
«Nein! Was für ein Gift?» Chris sah aus, als wollte sie ihm die Augen auskratzen, aber ihre Hände waren momentan nutzlos.
Er ließ sie nicht los. «Auf dem Schiff.»
«Nein, ich habe ihr nichts gegeben. Nur die Tabletten gegen Seekrankheit. Wann soll sie denn etwas Vergiftetes gegessen haben? Wir waren die ganze Zeit zusammen.» Aus großen Augen sah sie ihn an und gab jede Gegenwehr auf.
«Habt ihr irgendwo gegessen?»
«Natürlich. Im Restaurant, aber Mandy und noch eine Sängerin der Fairytales hatten das gleiche Essen wie Alva, und die beiden sind vollkommen gesund.»
Als könne er eine Lüge riechen, beugte er sich weiter zu ihr herab. Doch nichts wies darauf hin, dass sie die Unwahrheit sprach. Und noch eine Frage blieb ungeklärt: War es wirklich Zufall, dass sich Chris und Alva ausgerechnet jetzt begegneten? Julen fragte sich, ob es klug gewesen war, sie so übereilt zur Rede gestellt zu haben.
Natürlich, um die Wahrheit herauszufinden, war der Zeitpunkt exzellent gewählt. Ihre Aufregung machte sie zu einer besonders leichten Beute.
Chris litt unter Lampenfieber wie die meisten Künstler. Wer mochte es ihr verdenken? Dieser Auftritt war besonders wichtig. Von einer guten Presse würde unter Umständen der weitere Erfolg der gesamten Tournee abhängen. Und ausgerechnet heute gab es Probleme mit einer Sängerin, die keiner von ihnen bisher besonders gut kannte, geschweige denn wirklich einschätzen konnte. Sie hatte das Publikum bei ihrem letzten Auftritt verzaubert, keine Frage, aber würde es ihr auch heute gelingen?
All diese Überlegungen las Julen, als er noch einmal tief in Chris’ Gedanken eindrang. Von einer Mission oder dem Wunsch Alva zu schaden konnte er
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