Das Fest der Schlangen
zusammengeschlossen –, doch er beschwerte sich nicht. »Sperren Sie mich jetzt ein, oder lassen Sie mich gehen?«
Bobby nahm an, dass Carl die Antwort schon kannte. Es gefiel ihm nicht, wie Carl leise und selbstgewiss lächelte – als kenne er ein Geheimnis, das Bobby niemals erraten würde. Wie es ihm manchmal passierte, fragte Bobby sich, ob Carl sich auch so benehmen würde, wenn Bobby nicht schwarz wäre. Eigentlich war es kein richtiger Gedanke, aber er wanderte durch sein Gehirn. Das war ihm zuwider.
»Erzählen Sie mir, Carl, wo waren Sie gestern Abend?«
»Nirgendwo. Ich war die ganze Zeit zu Hause.«
»Können Sie das beweisen?«
»Fragen Sie meine Frau.«
»Seit wann sind Sie verheiratet?«
»Seit anderthalb Jahren ungefähr. Was hat das mit irgendwas zu tun?«
»Da sind Sie ja sozusagen jungvermählt. Wundert mich, dass Ihre Frau Sie im ersten Stock schlafen lässt.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
Etwas um Carls Augen spannte sich. Er war wütend, aber er wollte es sich nicht anmerken lassen; er wollte sich überhaupt nichts anmerken lassen. Bobby beantwortete die Frage nicht, und Carl stellte sie nicht noch einmal. Er wusste genau, wer es Bobby erzählt hatte. Das war beunruhigend. Bobby mochte Hercel und wollte nicht, dass ihm etwa passierte. Genau genommen hätte er, selbst wenn ihm der Jungen unsympathisch gewesen wäre, nicht gewollt, dass ihm etwas passierte.
»Woher stammen Sie, Carl?«
»Was geht das Sie an?«
»Sagen Sie es mir doch einfach.«
»Aus Oswego, nordöstlich von Syracuse.«
»Ich kenne Oswego«, sagte Bobby. »Warum sind Sie da weg?«
»Es hat mich gejuckt.«
»Haben Sie Verwandte da?«
»Nein.«
»Leben Ihre Eltern noch?«
»Nein. Wollen Sie meine Biografie schreiben oder was?«
Bobby hegte die leise Hoffnung, Carl würde explodieren, damit er ihn anschreien könnte, wie er im Keller geschrien hatte. Aber Carl spielte nicht mit. Er hielt die Tür zu sich geschlossen. Trotzdem nahm Bobby sich vor, Kontakt zu den Behörden in Oswego aufzunehmen. Er wäre überrascht, wenn jemand wie Carl im Leben so weit gekommen wäre, ohne ernstzunehmende Spuren zu hinterlassen, zum Beispiel durch Gewalttätigkeit.
»Okay, Carl, ich lasse Sie laufen. Möchten Sie nach Hause gefahren werden?«
»Ich gehe zu Fuß.«
»Ich fahre Sie gern.«
»Ich habe gesagt, ich gehe zu Fuß.«
Bobby ging um ihn herum und schloss die Handschellen auf. Dabei hatte er eine Sekunde lang das Gefühl, Carl würde sich auf ihn stürzen. Er wich einen halben Schritt zurück und bremste sich dann. Mein Gott, ich werde paranoid . Aber er konnte sich nicht einreden, dass er sich geirrt hatte.
Carl stand auf und rieb sich die Handgelenke. Sein Lächeln war immer noch da, und es war breiter geworden. Das Verlangen danach, den Mann zu schlagen, brachte Bobby fast zum Lachen. Er hatte versucht, Carl so weit zu reizen, dass dem der Kragen platzte, und jetzt platzte ihm selbst fast der Kragen.
»Okay, Carl, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass ich Sie gehen lassen sollte. Ich werde Sie im Auge behalten, also machen Sie keine Dummheiten.« Gern hätte er ihn davor gewarnt, seine Wut an seinen Stiefkindern oder seiner Frau auszulassen. Aber es hatte keine Anzeigen wegen Kindesmisshandlung gegeben, keine Anrufe wegen häuslicher Gewalt, und deshalb sagte Bobby nichts. Als er seinen Satz zu Ende gebracht hatte, war Carl sowieso schon fast zur Tür hinaus.
Der kommissarische Polizeichef Bonaldo hatte einen Sohn – tatsächlich hatte er fünf Kinder, zwei Mädchen und drei Jungen –, doch was uns hier interessiert, ist der Jüngste. Er war zehn Jahre alt und trug den Namen seines Urgroßvaters, der aus dem Dorf Bonaldo in Nordost-Italien nach Brewster gekommen war, aus dem sonnenverbrannten, pfannkuchenflachen Bauernland am Südrand der Dolomiten. Der Urgroßvater hatte Baldassare Bonaldo geheißen, und diesem Namen hatte Fred die Ehre geben wollen. Aber weil er vernünftig genug war, einem Baby keinen Namen wie Baldassare aufzubürden, war das Kind auf den Spitznamen des Urgroßvaters getauft worden: Baldo. Baldo Bonaldo.
Baldo ähnelte seinem Vater, rundlich und schwerfällig und mit dem gleichen roten, aufgedunsenen Gesicht, allerdings war er mehr als drei Handbreit kleiner, trug keine Brille und hatte noch alle seine Haare. Er liebte seinen Vater, und manchmal war er stolz, weil er aussah wie eine verkleinerte Version des kommissarischen Polizeichefs, aber manchmal empfand er es auch als
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