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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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nicht.
    Aber warum ein Baby stehlen? Vielleicht hatte irgendeine arme Mutter eine Fehlgeburt gehabt und ihr Kind verloren, und in einer Kurzschlussreaktion hatte sie entschieden, eins zu rauben. Angesichts der Abtreibungskliniken war eine Adoption nicht so einfach. Die jungen Schlampen ließen sich ein Kind machen und es dann herausschaben. Die Fetzen wurden zu Forschungszwecken in ein Labor geschickt. Davon hatte Jean in einer Illustrierten gelesen. Und jemand behauptete, es gebe einen lukrativen Markt für geraubte Babys, vor allem für weiße und vor allem für Jungen mit blauen Augen. Obwohl, um die Wahrheit zu sagen, wäre ein Kind von Peggy nicht gerade College-Material. Schon die Highschool könnte da zu viel sein. Ein Mann sagte, manche Leute fräßen Babys sogar, weil sie so weich und mollig seien. Jean war total empört gewesen, und als sie seinen Chai verschüttet hatte und ein paar Tropfen davon auf seinen Schoß kleckerten, war das kein Versehen gewesen. Das hatte er auch gewusst, denn er hatte ihr einen finsteren Blick zugeworfen. Aber sie hatte den Blick sofort erwidert. Oh, anscheinend konnte man mit gestohlenen Babys eine Menge anfangen, und nichts davon war hübsch.
    Danach hatte Jean aufgehört, mit Fremden über das entführte Kind zu reden, denn wer dazu etwas Scheußliches zu sagen hatte, tat es mit großem Genuss.
    Als der Mann im Hawaiihemd einen Anruf bekam, war es fünf vor zwölf. Jean wusste die genaue Zeit, weil sie gerade auf die Uhr geschaut hatte. Ginger Phelps kam für eine Stunde, damit Jean nach Hause flitzen konnte, um einen Happen zu essen und die Katzen zu füttern, und Jean hatte auf die Uhr geschaut, weil sie wissen wollte, wie lange sie darauf noch warten musste. Ginger arbeitete halbtags in der Bibliothek weiter unten in der Straße, aber da musste sie erst um ein Uhr anfangen.
    Das Handy des Mannes klingelte, und er meldete sich. Jean war neugierig seinetwegen, denn er war nicht von hier, und sie dachte, er wäre vielleicht ein Reporter, der eine Story über die Schlange und das gestohlene Baby schrieb und deshalb so tat, als wüsste er nichts darüber. Wenn er einen Artikel für eine große Zeitung wie den Boston Globe schrieb, würde er hoffentlich etwas Nettes über das Brewster Brew sagen.
    Meistens sagte der Mann im Hawaiihemd jedoch nur: »Ja … okay«, aber dann sagte er – und Jean war hundertprozentig sicher –: »Warum so weit da draußen?« Dann sagte er wieder dauernd: »Ja … okay«, und schließlich: »Warum muss es so spät sein?« Ein paarmal kam noch: »Ja … okay«, und dann sagte er: »Das hätte ich früher wissen sollen. Jetzt sitze ich den ganzen Nachmittag hier fest.« Er sah zu Jean herüber und verdrehte die Augen. Danach senkte er die Stimme, und Jean konnte nichts mehr verstehen. Er beendete das Gespräch, und Jean beobachtete sein Gesicht. Zuerst sah er besorgt aus, dann unsicher, und dann nagte er an der Unterlippe. Als er merkte, dass Jean ihn beobachtete, sagte er: »Meine Frau«, aber sie wusste, dass er log. Er nahm seine Zeitung und ging, und sie sah ihn nicht wieder.
    Bobby Anderson hatte große, eckige Fingernägel, die sehr hell, beinahe zitronenfarben waren. Er betrachtete sie nachdenklich, während er bis fünf zählte. Ihm gegenüber am Tisch im Vernehmungsraum saß Carl Krause, dessen Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt waren. Bobby musste sich beherrschen, um Carl keine Ohrfeige zu geben; er hatte wegen einer ähnlichen Sache schon ein bisschen Ärger.
    Bobby war stinksauer, weil Carl ihm mit der Schrotflinte einen Schrecken eingejagt hatte. Als Carl dann nicht geschossen hatte, konnte Bobby natürlich mit ihm diskutieren – besser gesagt, ihn anschreien. Zum Beispiel, ob Carl vielleicht wisse, wie tief er in der Scheiße sitzen würde, wenn er auf einen State Trooper und auf einen Polizeichef geschossen hätte, selbst wenn es nur ein kommissarischer Polizeichef sei? Gar nicht zu reden von Hercel, der wahrscheinlich auch verletzt worden wäre? Jeder Cop in Neuengland würde angebraust kommen wie zehn Güterzüge auf einmal. Sie würden ihm bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren ziehen. Und wenn er Widerstand leistete? Sie würden gezielt auf ihn schießen. Und diese Jungs seien erstklassige Schützen. Sie würden ihn durchlöchern, wie eine Maus ein Stück Käse durchlöchert, bis von Carl nicht mehr genug da wäre, um es in eine nasse Socke zu stopfen. Das alles hatte Bobby aus voller Lunge kundgetan,

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