Das Fest der Schlangen
unangenehmes Schicksal. Wenn Baldo wissen wollte, wie er mit fünfundvierzig aussehen würde, sah er die Antwort vor sich, wie sie im Takt ihrer Argumente, Beschwerden und Wünsche mit den Händen fuchtelte. Der Vater war ein Gestikulierer, und der Sohn war auch einer.
Baldo war ein intelligenter Junge, wenn auch schüchtern, und mit seiner Figur fühlte er sich nicht wohl. Seine beiden älteren Brüder waren athletisch und fit, doch Fred Bonaldo war nie athletisch und fit gewesen, und Baldo wusste, dass es seine Bestimmung war, ihm auf diesem Weg zu folgen – in ein Leben voller Diäten und Ausschweifungen. Nur stimmte ihn das nicht düster, denn er hatte den Humor seiner Mutter geerbt. Unglücklicherweise führte seine Lebhaftigkeit zu einer Vorliebe für Streiche, und diese wiederum führten zu Problemen. Es machte ihm Spaß, sein Taschengeld zu sparen und dann Dinge aus Katalogen zu bestellen, auch wenn er die Folgen vielleicht bedauerte.
Die Detonationen seiner ferngesteuerten Furzmaschine hatten seine Kameraden aus der fünften Klasse ernstlich verärgert, der Furzspray war noch schlimmer gewesen, und die furzende Türglocke hatte seinen Vater veranlasst, ihn die Straße hinunterzujagen. Da waren der Weihnachtsmann, der furzte, wenn man an seinem Finger zog, und das grüne Plastikmonster, das einen ansprang, wenn man die Klobrille hochklappte. Das sprechende Hundehalsband, die riesige funkgesteuerte Ameise, die animierte zustoßende Schlange und der dreidimensionale Streifenbarsch, der scheinbar durch die Windschutzscheibe krachte – das war es für Baldo, worum es ging im Leben, und es bewirkte, dass die andern im Umgang mit ihm eine gewisse Vorsicht an den Tag legten. Ein bisschen Juckpulver in der Hose hatte den Klassentyrannen der Fünften, Butchy Dunn, wütend gemacht, aber der unschuldig aussehende rote Lolli, der ihn unkontrolliert furzen ließ, hatte echte Angst geweckt. Das Problem war, dass Baldo wie die meisten schüchternen Menschen gern gemocht werden wollte, doch angesichts seiner Leidenschaft für Streiche war es schwierig, sich mit ihm abzugeben. Man brauchte Mut.
Der Junge, den Baldo am liebsten zum Freund gehabt hätte, war Hercel McGarty Jr., der von allen in der Fünften den größten Ernst und den wenigsten Humor zeigte. Solche Streiche spielt das Leben. Die Maus möchte mit der Katze zusammen sein. Hercel hatte nichts gegen Baldo, er sah nur nicht, was er für einen Sinn hatte, aber so ging es Hercel mit vielen Dingen. Es wäre unzutreffend, wenn man sagen wollte, er habe keinen Humor, doch ein Furzkissen, selbst eins von der elektronischen Sorte, interessierte ihn nicht. Er sah keinen Sinn darin, und das galt ebenso für eine Torte im Gesicht. Natürlich hatte er Phantasie, nur schob er die beiseite. Phantasie störte bei der Konzentration, und auch darin sah er keinen Sinn.
Im September hatte Baldo mit Hercel in der Pause gesprochen und ihm erzählt, er wolle gern Vampir werden, aber er werde warten, bis er erwachsen sei, denn er wolle kein kindergroßer Vampir sein. In Hercels Augen war das eine seltsame Ambition. Baldo sagte, er wisse schon, dass Vampire unbeliebt seien; sie hätten Mundgeruch, könnten nachts nicht schlafen und hätten schlechte Angewohnheiten. Doch ihm gefiel, dass Vampire nicht schüchtern waren. »Wer hat schon mal von einem schüchternen Vampir gehört?«, fragte er. Hercel sah ihn an und ging weg.
Baldo gefiel Hercels Gleichmut. Es war nicht das Wort, das er benutzte, aber es war das, was er meinte, wenn er sagte, Hercel sei cool. Er war neugierig in Bezug auf Hercel, wohingegen Hercel überhaupt nicht neugierig war. Andererseits hatte Hercel gute Manieren. Selbst wenn Baldo ihm auf die Nerven ging, schlug er ihn nicht zu Boden. Sein Vater, Hercel Sen., hatte ihm eingeschärft, niemals jemanden zu schlagen, der schwächer war als er, schon gar nicht ins Gesicht.
Baldo fand auch, dass Hercel etwas Komisches an sich hatte. Er wusste, »komisch« war nicht der richtige Ausdruck, nur fiel ihm kein besserer ein. Das ist das Problem, wenn man zehn ist: Gefühle und Ideen müssen sprachlich noch einsortiert werden. Dabei konnte Baldo sich gut ausdrücken. Weil er schüchtern war und viel Zeit allein verbrachte, hatte er so einiges gelesen. Es wäre schön, wenn man sagen könnte, seine Lektüre hätte aus Charles Dickens und Emily Dickinson bestanden, aber nein – was er gelesen hatte, war ein Buch über Hypnose für Anfänger, ein Buch über Unsichtbarkeit und
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