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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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Handrücken. Die Beine waren angewinkelt, die Füße deuteten zur Decke, und die Fersen schlugen auf eine nachdenklich wirkende Art gegeneinander. Vor Hercel auf dem Zementboden lagen drei Murmeln. Sie starrte er an.
    Na, das war geheimnisvoll, und Baldo begriff mit Bedauern, dass Hercel seine Hilfe nicht benötigte. Trotzdem blieb er still liegen und sah zu, obwohl der Boden neben dem Haus kalt und ziemlich feucht war.
    Dann bewegte sich etwas. Die Murmel in der Mitte. Sie bewegte sich um knapp zehn Zentimeter, und Hercel hatte sie nicht angerührt. Baldo überlief es kalt, aber vermutlich hatte Hercel sie mit einem scharfen Stoß seines Jungenatems ins Rollen gebracht. Nur, Hercels Mund war geschlossen, und er hatte die Backen nicht aufgeblasen. Baldo nahm an, sich geirrt zu haben. Die Murmel hatte sich nicht bewegt. Trotzdem schaute er noch genauer hin.
    Als Nächstes fing die Murmel links von Hercel an zu rollen. Hercels Mund war immer noch geschlossen. Schnaubte er vielleicht durch die Nase? Die Murmel rollte ungefähr fünfzehn Zentimeter vorwärts und blieb liegen.
    In Baldos kleiner Bibliothek gab es mehrere eselsohrige Zauberbücher. Er konnte Münzen verschwinden und im Ohr seines Gegenübers wieder auftauchen lassen. Er beherrschte drei Kartentricks. Er wusste, wie man ein Seil erstarren und eine Zigarette durch eine Münze gleiten ließ. Er konnte Wasser in Wein verwandeln, aber den konnte man nicht trinken. Murmeln von selbst losrollen lassen, das konnte er nicht.
    Jetzt bewegte sich die Murmel rechts vor Hercel. Hercel sah angestrengt und konzentriert aus, und sein Gesicht war ein bisschen rosa geworden, ganz so, dachte Baldo, als versuche er auf dem Klo einen dicken Klotz abzuseilen. Nie im Leben konnte Hercel eine Murmel seitwärts rollen lassen, indem er sie heimlich anblies. Baldo rutschte weiter nach vorn, bis sich seine Nase an die Scheibe drückte.
    Hercel spitzte die Lippen, und sein Gesicht färbte sich dunkler. Seine verschränkten Hände ballten sich zu Fäusten. Die mittlere Murmel bewegte sich und erhob sich langsam in die Luft. Von inneren Vibrationen bebend, stieg sie etwa acht und dann zwölf Zentimeter hoch. Sie blieb kurz hängen, bis Hercel so laut nach Luft schnappte, dass Baldo es hören konnte. Dann fiel sie wieder zu Boden.
    Unglücklicherweise rief im nächsten Moment eine Männerstimme: »Hey, Bengel, was machst du da, verdammt?« Carl Krause beugte sich über das Verandageländer.
    Baldo schaute noch einmal durch das Kellerfenster, und in diesem Moment trafen sich seine und Hercels Blicke. Nur für einen sehr kurzen Moment, denn Baldo sprang sofort auf und stürmte durch das Gebüsch, als er hörte, wie Carls Stiefel auf den Verandastufen polterten.
    »Du kleiner Scheißer, ich weiß genau, was du da treibst!«
    Baldo war kein großer Sprinter, aber die Umstände können jede Unzulänglichkeit annullieren. Er hörte Carl hinter sich und rannte, wie er noch nie im Leben gerannt war. Er warf nicht einen einzigen Blick zurück und wusste auch nicht, wie lange Carl die Verfolgung fortsetzte. Erst sechs Straßen weiter, als er sich erschöpft zu Boden fallen ließ, weil es ihm egal war, ob der Mann ihn umbrachte oder nicht, schaute er sich um. Carl war nicht zu sehen.

5
    Als Ernest Hartmann mit seinem Ford Focus aus Brewster hinausfuhr, war es acht Uhr am Donnerstagabend, und es nieselte. Er hatte eine Karte und eine schriftliche Wegbeschreibung, doch der erste Teil der Strecke sah ganz einfach aus. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag seine Browning Hi-Power. Er war im Zweifel gewesen, ob er sie mitnehmen sollte, hatte sie sich aber im letzten Moment noch geschnappt. Dreizehn Patronen im Magazin, eine in der Kammer – Neun-Millimeter, der Neunerkönig, wie sein Vater immer gesagt hatte. Vorsicht war besser als Nachsicht.
    Hartmann nahm die Route 1 nach Perryville und fuhr dann in nördlicher Richtung auf der Ministerial Road nach South Kingstown. Licht war kaum zu sehen. Die meiste Zeit führte die Straße ihn durch ein Waldland, in dem nur einzelne Häuser verstreut hinter den Bäumen verborgen waren. In der Gegend von Tuckertown Four Corners kamen Farmen, ein Park und ein paar Häuser mehr, dann ging es wieder in den Wald hinein. Über zwei Meilen lang sah er nichts als die Schatten der Bäume, bis er am Wasser des Larkin Pond vorbeikam und South Kingstown erreichte, wo es einen Amtrak-Bahnhof gab. Eine Meile weit im Nordosten lag der Campus der University of Rhode Island, und

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