Das Fest der Schlangen
in einen Käfer. Man findet sie in allen Kulturen – es ist riskant, sie glattweg von der Hand zu weisen. Manchmal wird eine Person zur Strafe in ein Tier verwandelt. Manchmal verwandelt jemand sich selbst, oder es ist etwas, über das er keine Kontrolle hat. Warum sich jemand entschließt, seine Gestalt zu wandeln – nun, es gibt ihm die Kraft des Tieres und befreit ihn von menschlichen Hemmungen. Angeblich ist es befreiend. Und wie es geht – ja, das ist eine gute Frage. Könnte sein, dass sie lügen. Vielleicht ist es eine Form von Massenhysterie. Vielleicht sind es selbst herbeigeführte Halluzinationen. Früher haben Hexen sich und ihre Besenstiele mit Salben aus Belladonna, Opium, Schierling, Fingerhut und tierischem Fett eingerieben, die Halluzinationen hervorriefen. Flugsalbe nannten sie es. Und dann gibt es noch eine letzte Möglichkeit: Vielleicht geht es wirklich.«
»Das ist lächerlich.«
Chmielnicki lachte. »Da reden Ihre Modifikationen. Zweiundneunzig Prozent unseres Genoms bestehen aus den fundamentalen Genen aller Wirbeltiere, und der Rest enthält die Unterschiede zwischen den Wirbeltieren. Ein halbes Prozent trennt uns von den Neandertalern, und drei Prozent unterscheiden uns von anderen Säugetieren. Aber in einer DNA -Reihe gibt es deaktivierte intragene Regionen namens Introns, über deren Zweck man nichts weiß. Wir haben auch abgeschaltete Gene, die für die DNA das sind, was der Blinddarm für den menschlichen Körper ist: früher einmal nützlich, heute nicht mehr. Manche glauben, sie enthalten das Geheimnis alternativer Formen, und ihre Aktivierung mache die Gestaltwandlung möglich.«
»Indem man das Gehirn aufschneidet?«
»Nicht unbedingt. Chemikalien könnten genügen. Selbst die durch verschiedene Formen von Yoga erreichbare Kontrolle könnte es bewirken. Ein Lehrer hat einmal gesagt: › Yoga beschränkt die Schwingungen des Geistes. ‹ Durch Yoga kann man seine unwillkürlichen Muskelbewegungen beherrschen, man kann Schmerz beeinflussen, sein Fleisch durchbohren und die Wunde wieder schließen. Man kann über glühende Kohlen gehen, ohne sich zu verbrennen. Warum sollen wir da nicht unsere schlafenden Gene aktivieren und uns in ein anderes Geschöpf verwandeln können?«
Woody war dieses Thema so unbehaglich, dass er das Gefühl hatte, auf dünnem Eis zu gehen. »Und welches ist das Tier der Wahl im South County?«
»Kojoten sind anscheinend am beliebtesten.«
»Könnten sie einen Mord begehen?«
»Woody, jeder kann einen Mord begehen. Haben Sie das noch nicht gelernt? Aber wenn jemand durch Gestaltwandlung zu einem Raubtier wird, ändern sich die Kategorien. Nennen wir es Mord, wenn die Katze eine Maus tötet?«
»Könnten Sie einen Mord begehen?«
»Ich möchte gern glauben, dass es nicht der Fall ist. Was ich gelernt habe, ist der Versuch, mich von solchen Wünschen zu befreien. Aber Sie haben doch sicher schon Leute gekannt, die Sie umbringen wollten.«
Woody konnte die Berührung dieser blauen Augen in seinem Gesicht beinahe fühlen. Er bedauerte jetzt, dass er Chmielnicki nicht zur Vernehmung an die FBI -Agenten übergeben hatte.
»Wie die meisten Menschen«, fuhr Chmielnicki fort, »haben Sie eine widersprüchliche Natur, und Sie sind verwundbar durch emotionale Veränderungen, die durch unerwartete Umstände hervorgerufen werden. Anscheinend haben Sie vor Kurzem einen Verlust erlitten. Alles, was Sie anschauen, sehen Sie durch den Nebel dieses Verlustes. Ihr Zorn ist dadurch heute vergrößert worden. Ist es ein Todesfall? Nein. Eine schwere Zurückweisung? Möglich. Woody, hat Ihre Frau Sie kürzlich verlassen? Oder vielleicht Ihre Freundin?«
So ging das.
7
Die Nacht rückte heran. Die Sonne war fast untergegangen, als Wolken aufzogen. Harriet Krause stand am Wohnzimmerfenster und sah, wie Hercel mit dem Rad aus der Einfahrt und die Newport hinunterfuhr. Zu sehen, wie er verschwand, erfüllte sie mit Sorge. Er kam ihr seltsam vor, aber sie wusste, das war nicht das richtige Wort. »Introspektiv« war das, was sie meinte. »Klarsichtig« – es erschien zu viel für einen Zehnjährigen. Was immer es war, er geriet nicht nach ihr, und übrigens auch nicht nach seinem Vater. Vielleicht war er wie ihr Großvater, von dem es hieß, er sei eigenbrötlerisch gewesen und gescheiter, als gut für ihn war. Harriet hatte ihn nicht gekannt. Er war verschwunden, als sie noch ein Baby war. Manche Leute sagten, er sei ins Meer gegangen.
Hercel verbrachte zu viel Zeit
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