Das Fest der Zwerge
den Wäldern zu den Gehöften.« Er gähnte. »Mach dir keine Sorgen, sie werden hier nichts finden. Ich habe alles gut verriegelt.« Damit war die Sache für ihn erledigt. Seufzend rollte er sich auf die Seite und wandte ihr den Rücken zu.
Myriah bedachte den geliebten Mann an ihrer Seite mit einem langen, traurigen Blick. Er war früh ergraut. Sie wusste, dass er um die Mundwinkel selbst im Schlaf einen verbitterten Zug trug, auch wenn sie sein Gesicht jetzt nicht sah, denn sie war nicht ganz unschuldig an dem Kummer, der ihn plagte. Sein Leben war hart, die Arbeit auf den Feldern und im Stall zermürbend. Ihre Liebe war nicht mehr so jung wie einst, die anfängliche Unbekümmertheit verflogen. Je mehr Jahre verstrichen waren, ohne dass sie ihm ein Kind gebar, desto mürrischer war er geworden.
Myriah sog die Luft scharf durch die Zähne und biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte alles versucht, aber kein Kräuterweib und keine Heilerin hatte ihr helfen können. Bald würde sie zu alt sein, um Lanaar den ersehnten Erben zu schenken. Was würde er dann tun? Würde er sich eine Jüngere ins Haus holen, so wie es die anderen Männer taten? Würde er sie verstoßen und sie zwingen, den Rest ihres Lebens bettelnd am Brunnen in der Stadt oder als Fürbitterin in der Abtei der Gütigen Ordensfrauen zu verbringen? So wie die anderen Frauen, deren Schoß leer geblieben war? Fröstelnd zog sich Myriah die Decke enger um die Schultern. Wie viele Jahre mochten ihr noch bleiben, das zu verhindern?
Draußen rauschte, heulte und donnerte es erneut.
Myriah lauschte. Es schien, als brause etwas mit lautem Getöse über ihr Haus hinweg. Wie eine Herde fliegender Pferde, die von Wölfen gejagt wurde. Pferde können nicht fliegen, versuchte Myriah sich in Gedanken zu beruhigen. Und es gibt auch keine Wölfe, die über den Himmel … Sie stutzte.
Die Wilde Jagd.
Der Gedanke jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Hastig zählte sie an den Fingern die Tage ab, rechnete nach und erschrak. Es war die Nacht zum 6. Jenner. Die letzte und gefährlichste Nacht der Zwölfnächte. Das unheimliche Rauschen und Heulen konnte durchaus von Wuotan stammen, der sein gefürchtetes Heer aus Geistern, Dämonen und Wölfen auf dem Rücken seines achtbeinigen Pferdes ein letztes Mal über den Himmel trieb.
Myriah saß ganz still. Sie kannte die Legende der Wilden Jagd noch aus Kindertagen. Ihre Mutter hatte immer streng darauf geachtet, in diesen Nächten keine Wäsche auf die Leine zu hängen, und nachdrücklich darauf bestanden, dass Myriah und ihre Geschwister vor Einbruch der Dunkelheit im Haus waren. Drinnen durfte keine Unordnung herrschen, und vor dem Einschlafen wurden besondere Gebete gesprochen.
Myriah erinnerte sich noch gut daran, wie sehr sie die Zwölfnächte nach der Wintersonnenwende als Kind gefürchtet hatte. Oft hatte sie bis in die Morgendämmerung hinein wach gelegen und auf das Rauschen gewartet, das dem Nahen des Geisterheeres vorauseilte. Stets vergeblich. Sie war älter geworden und zu der Überzeugung gelangt, dass die Legende um die Wilde Jagd nichts weiter war als eine Mär, die Kinder das Fürchten lehren sollte. Anders als ihre Mutter wusch sie auch in den Tagen nach der Wintersonnenwende Wäsche und ging im Dunkeln hinaus, um im Stall nach dem Rechten zu sehen. Nie war ihr etwas geschehen. Nie war sie einem Geschöpf aus dem Totenreich begegnet und nie hatte sie auch nur ein Anzeichen für die Wilde Jagd am Himmel ausgemacht.
Bis heute.
Über dem Dach des Hauses schwoll das Heulen, Rauschen und Donnern wieder an. Offenbar hatte sich Wuotan entschieden, direkt über ihrer Hütte sein wildes Treiben abzuhalten. Und wirklich. Als sie erneut einen Blick aus dem Fenster wagte, sah sie es: das Heer Wuotans. Die Armada des Schreckens, an die sie nicht mehr geglaubt hatte. Ein gewaltiger Zug aus Unholden verdunkelte das Mondlicht, als er am Vollmond vorüberzog, und hüllte die verschneite Landschaft für endlose Herzschläge in Schatten. Zitternd, die Decke fest an sich gepresst, verfolgte Myriah, wie sich vor dem Hintergrund der schneebedeckten Büsche formlose Schatten im Halbdunkeln über den Hof bewegten. Einige kamen dicht an die Hütte heran und starrten durch die mit Eisblumen umrandeten Fenster hinein. Düstere, stumme Geister, die nur noch entfernt an Menschen erinnerten.
Habe ich die Wäsche abgenommen?, schoss es Myriah durch den Kopf. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie alle Stücke
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