Das Fest der Zwerge
soll. Mir kommt das Ganze irgendwie schäbig vor. Und was Weihnachten angeht, so glaube ich, dass wir das Fest in diesem Jahr ausfallen lassen.«
»Bobby und ich fanden das einfach schrecklich«, erinnerte sich während der diesjährigen Feierlichkeiten zur Verleihung des Pulitzer-Preises die hübsche, kleine (120 cm) Michelle Ginsberg an jene dunklen Novembertage. »Wir berichteten nach bestem Wissen und Gewissen über das, was wir als Tatsachen in Erfahrung bringen konnten. Nie hätten wir es für möglich gehalten, dass dies zur Rezession oder zu all den anderen Schwierigkeiten führen würde. Ich weiß noch, wie ich am Morgen des 25. Dezembers, der früher einmal als erster Weihnachtstag gefeiert worden war, vor meiner Strumpfhose gesessen habe, die schlaff und leer vorm Kamin hing, und Rotz und Wasser heulte. Das war wohl der schmerzhafteste Augenblick in meinem Leben.«
Dann, am 21. Januar, erhielt die Redaktion von Our Own Times einen Anruf des Präsidenten der Vereinigten Staaten, der die beiden Reporter Bobby und Michelle einlud, mit ihm im Präsidentenjet, der Sprit of '76, zu einer speziellen Überraschungsreise zum Nordpol zu fliegen.
Was sie dort sahen und wen sie trafen, erfuhr die Nation am Abend des 24. Januar, dem neuen Weihnachtsabend, während einer vom Präsidenten einberufenen Pressekonferenz. Bobby zeigte einen Polaroid-Schnappschuss von den Elfen, die in ihrer Werkstatt bei der Arbeit sind, und ein Foto von sich, wie er dem Weihnachtsmann die Hand schüttelt, der neben ihm im Schlitten sitzt, und eins, wo alle – Bobby, Michelle, der Weihnachtsmann, der Präsident und die First Lady – vor einem großen, gebratenen Truthahn am Tisch zusammensitzen. Anschließend las Michelle eine Liste der Geschenke vor, die sie und Bobby erhalten hatten. Geschätzter Gesamtwert: $ 18.599,95. Frank und frei kommentierte Michelle: »So viel Knete kriegt mein Dad einfach nicht zusammen.«
»Michelle«, fragte der Präsident und zwinkerte, »glaubst du denn jetzt an den Weihnachtsmann?«
»Oh, natürlich. Keine Frage.«
»Und du, Bobby?«
Bobby schaute lächelnd auf die Spitzen seiner neuen Cowboystiefel. »Na klar. Und nicht nur, weil er mir die tollen Geschenke gemacht hat. Sein Bart, zum Beispiel. Ich hab mal kurz daran gezogen und schwöre, dass er echt ist.«
Der Präsident legte die Arme um die beiden Kinder und drückte sie herzlich. Dann wurde er plötzlich ganz ernst, blickte frontal in die Kamera und sagte: »Bobby, Michelle – eure Freunde, die behauptet haben, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt, irren sich. Sie sind dem Skeptizismus einer skeptischen Zeit zum Opfer gefallen. Sie wollen nur glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen haben. Sie glauben, dass nichts sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht begreift. Aber unser aller Verstand, mein lieber Billy … eh, Bobby und meine liebe Michelle, ist ganz klein, sowohl bei Erwachsenen wie bei Kindern. In seiner Welt ist der Mensch, auch was seinen Verstand betrifft, winzig klein, so klein wie eine Ameise, wenn man den Vergleich zu den endlosen Weiten unseres Universums heranzieht, das abgesteckt wurde von jenem Geist, der die ganze Wahrheit und alles Wissen in sich trägt.
Nicht an den Weihnachtsmann glauben …? Da könnte man ja gleich auch alle Feen verleugnen. Kein Weihnachtsmann? Ha! Aber zum Glück lebt er ja, und zwar für immer. Selbst in tausend Jahren – ach, was sage ich? – in zehnmal zehntausend Jahren wird er immer noch die Kinderherzen erfreuen.«
Dann legte er den Finger an den Nasenflügel, zwinkerte freundlich mit den Augen und fügte hinzu: »Abschließend möchte ich euch, Bobby und Michelle, sowie allen anderen Altersgenossen Amerikas, ein fröhliches Weihnachtsfest und eine gute Nacht wünschen.«
Marliese Arold
Die zweite Chance
Der Zug war an diesem Sonntagnachmittag brechend voll. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich in die Menge einzureihen, die sich durch die Abteile quetschte. Mein Hintermann schob mich mit sachter Gewalt vorwärts, und ich lief auf meinen Vordermann auf, der unvermutet stehen geblieben war. Der Geruch nasser Wolle stieg mir in die Nase.
»Entschuldigung«, murmelte ich.
»Es geht nicht weiter«, erklärte er.
Ich stöhnte. »Es geht nicht weiter«, gab ich an meinen Hintermann weiter, der mir hartnäckig seine Notebooktasche in die Kniekehlen presste.
Aus der Gegenrichtung drängte eine
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