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Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Polzin
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Mutter?«
    Erschrocken blickte der Ritter nach oben, doch dort war nichts. Nichts außer dem Himmel, an dem jetzt ein Sturm wütete und die Wolken in alle Richtungen auseinandertrieb. Chlodekrieg senkte den Blick. Mittlerweile war er sich nicht mehr ganz sicher, dass er die Stimme wirklich gehört hatte.
    Ich verliere den Verstand, dachte er erschüttert. Ich brauche mehr Ruhe und Schlaf. Einen Ort, wo mich niemand stört, regelmäßige Mahlzeiten, Kräuterwickel und vielleicht Kamillendampfbäder.
    Er bemerkte, dass ein Steinbogen fehlte.
    Zögernd ging Chlodekrieg dorthin, wo er eben noch gestanden hatte. Die Abdrücke waren deutlich zu sehen. Wie konnte ein ganzer Bogen plötzlich verschwinden?
    Auf einmal regneten Steine vom Himmel, doch seltsamerweise nur in einem kleinen Bereich. Chlodekrieg brachte sich geschwind in Sicherheit. Als der Hagel endete, las er einen der Steine auf. Er war viel zu leicht! Er leckte an ihm und biss hinein: Gebäck! Rasch ging er zu einer der Säulen, um nachzuprüfen, woraus sie bestand. Das Ergebnis war dasselbe.
    Wie gerne hätte sich der Ritter getäuscht. Wie viel hätte er dafür gegeben! Schwankend suchte er nach einem Halt, als sich alles zusammenfügte: Er stand nicht auf einer Pyramide, nicht auf einem Turm und auch nicht auf einem Berg. Er stand auf etwas Künstlichem: einem unsagbar großen Kuchen! Einer Torte, gebacken von Riesen, oder besser gesagt von Wesen, von denen Riesen einander ehrfürchtig erzählten, wenn auch sie schaurige Geschichten von gigantischen Geschöpfen hören wollten. Und er selbst erfüllte denselben Zweck wie die essbaren Bögen und Säulen. Er gehörte zur Verzierung dieser Torte.
    »Er singt immer noch nicht. Darf ich ihn jetzt nehmen, Mutter?«, nörgelte die körperlose Stimme über ihm. Chlodekrieg beabsichtigte nicht, so lange zu warten, bis jene Umstände unwiderruflich eingetreten waren, die dazu führen würden, dass – wie zuvor die Krümel – Klumpen seines blutigen Fleisches vom Himmel regneten. Mit geschwellter Brust begann er laut und verzweifelt das einzige Lied zu singen, von dem er mehr als nur eine Strophe kannte: »Für immer frei, mein Furchental, so wie es einst geschworen, und jedem Tyrannen getrotzt …«
     

Thomas M. Disch
                      Der Weihnachtsmann-Kompromiss
     
    Weise Eltern bestrafen auch immer wieder einmal allzu vertrauensseliges Verhalten. Das ist der eigentliche Beweggrund für ihr Versteckspiel, dafür, dass ihre Hand strategische Rückzüge ausübt vor dem ersten freien Schritt des Kindes, für Geschichten über den Weihnachtsmann, die Zahnfee und so weiter. Die kleinen Schätzchen sollen nämlich beizeiten lernen … nun, ich will nicht sagen untreu, aber doch in gewisser Weise nachdenklich zu werden.
    Einige Moralisten beklagen diese Sachlage. Meine Kindergärtnerin in der Vorschule zur Menschwerdung in Minneapolis erboste meine Eltern, als sie ihren Zöglingen erklärte, dass es keinen Weihnachtsmann gibt, dass alle Geschenke eigentlich von … (Ach, wenn ich das jetzt verrate, nehme ich die Pointe der Geschichte vorweg.)
    Religiöser Glaube gerät oft in Konflikt mit dem Erzählen von Geschichten. Puritaner finden Schauspieler verwerflich. Den Islam beunruhigen alle Formen der Darstellung. Und warum? Weil die Erfahrung, nach der Vorstellung das Theater zu verlassen, einem Paradigma der Enttäuschung gleichkommt. Religiöse Leute sollen nämlich glauben, und zwar in erster Linie und buchstabengetreu an das, wofür sie sich bekennen, und dieses Bekenntnis hat keine Ausgänge. Wahrhaft Gläubige haben den großen Sprung gewagt und leben danach auf ewig im freien Fall.
    Was hat all das mit Watergate zu tun? Nun, auch die Politik hat ihre Mythen, die schon in der Schule eingetrichtert und in sämtlichen öffentlichen Reden von Politikern auf nahezu rituelle Weise eingeschärft werden. An erster Stelle dieser Mythen rangiert die Vorstellung, dass unsere Spitzenpolitiker Männer der Weisheit, Redlichkeit und Hingabe an das Allgemeinwohl seien. Man sollte doch meinen, dass nach der Schulzeit nur ein kurzer Kontakt mit der Welt ausreicht, um skeptischere Ansichten zu fördern, aber der Wunsch, an den Weihnachtsmann und/oder den Präsidenten zu glauben, ist zu tief verwurzelt und alles andere als rational. Ich erinnere mich, dass in den ersten Wochen des Watergate-Skandals, also im Frühjahr 1973, meine Tante Aurelia äußerst bestürzt auf den Gedanken reagierte, dass Nixon ihr

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