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Das Fest des Ziegenbocks

Das Fest des Ziegenbocks

Titel: Das Fest des Ziegenbocks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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vor sechzehn Monaten – nie würde er diesen Tag vergessen – , am Sonntag, dem 25. Januar 1960, jenes Wunder geschah. Ein Regenbogen am dominikanischen Himmel. Am 21. war das Fest der Patronin, Nuestra Senora de la Altagracia, gewesen, und an diesem Tag hatte auch die schlimmste Treibjagd auf die Aktivisten des 14. Juni stattgefunden. Die Patronatskirche war an jenem sonnigen Vormittag in Santiago dicht gefüllt. Plötzlich begann Pater Cipriano Fortín von der Kanzel aus mit fester Stimme – dasselbe taten die Hirten Christi in allen dominikanischen Kirchen – jenen Hirtenbrief des Episkopats zu verlesen, der die Republik erschütterte. Es war ein Zyklon, dramatischer noch als der berühmte am Tag des heiligen Zeno, der 1930, zu Beginn der Ära Trujillo, die Hauptstadt hinweggefegt hatte.
    Salvador Estrella Sadhalá lächelte im Dunkel des Fahrzeugs, versunken in die Erinnerung an jenen Glückstag. Während er Pater Fortín in seinem leicht französisch angehauchten Spanisch lesen hörte, erschien ihm jeder Satz dieses Hirtenbriefs, der die Bestie vor Zorn rasen ließ, wie eine Antwort auf seine Ängste und Zweifel. Er kannte diesen Text so gut – er hatte ihn nicht nur gehört, sondern auch gelesen, denn er war heimlich gedruckt und überall verteilt worden – , daß er ihn fast auswendig wußte. Ein »Schatten von Traurigkeit« liege über dem Fest zu Ehren der dominikanischen Patronin. »Angesichts des tiefen Schmerzes, der zahlreiche dominikanische Familien erfüllt, können wir nicht gleichgültig bleiben«, erklärten die Bischöfe. Wie Petrus wollten sie »weinen mit denen, die weinen«. Sie erinnerten daran, daß »Ursprung und Grund aller Rechte in der unverletzlichen Würde des Menschen liegen«. Ein Zitat von Pius XII. erinnerte an die »Millionen von Menschen, die noch immer unter Unterdrückung und Gewaltherrschaft leiden« und für die »nichts sicher ist: nicht das Zuhause, nicht die Habe, nicht die Freiheit, nicht die Ehre«.
    Jeder Satz ließ Salvadors Herz schneller schlagen. »Wem gehört das Recht auf Leben, wenn nicht einzig Gott, dem Schöpfer des Lebens?« Die Bischöfe betonten, daß aus diesem »vorrangigem Recht« die anderen hervorgehen: das Recht, eine Familie zu gründen, das Recht auf Arbeit, auf Handel, auf Auswanderung (war das nicht eine Verurteilung des infamen Systems, für jede Auslandsreise um polizeiliche Erlaubnis bitten zu müssen?), auf einen guten Leumund, darauf, nicht »unter nichtigen Vorwänden oder infolge anonymer Anschuldigungen« »aus niedrigen, verächtlichen Beweggründen« verleumdet zu werden. Der Hirtenbrief bekräftigte »das Recht jedes Menschen auf Gewissens- und Pressefreiheit und auf freie Vereinsbildung«. Die Bischöfe beteten »in diesen Augenblicken der Angst und Ungewißheit« »um Eintracht und Frieden« und um die »Einsetzung der heiligen Rechte des menschlichen Zusammenlebens« in diesem Land.
    Salvador war so bewegt, daß er nach Verlassen der Kirche nicht einmal mit seiner Frau oder mit den Freunden, die vor dem Portal der Pfarrkirche zusammenstanden und heiße Köpfe hatten vor Überraschung, Begeisterung oder Angst angesichts des soeben Gehörten, über den Hirtenbrief sprechen konnte. Ein Irrtum war ausgeschlossen: der Hirtenbrief war von Erzbischof Ricardo Pittini überschrieben und von den fünf Bischöfen des Landes unterzeichnet. Er stammelte eine Entschuldigung, ließ seine Familie stehen und kehrte wie ein Schlafwandler in die Kirche zurück. Er ging in die Sakristei. Pater Fortín zog sich gerade das Meßgewand aus. Er lächelte ihn an: »Jetzt bist du doch bestimmt stolz auf deine Kirche, nicht, Salvador?« Er brachte kein Wort hervor. Er umarmte den Geistlichen und hielt ihn lange fest. Ja, die Kirche des Herrn hatte endlich Partei für die Opfer ergriffen.
    »Die Vergeltungsmaßnahmen werden schrecklich sein, Pater Fortín«, murmelte er.
    Sie waren es. Aber mit seinem teuflischen Geschick für die Intrige konzentrierte das Regime seine Rache auf die beiden ausländischen Bischöfe und ließ die Einheimischen unangetastet. Monsignore Tomás F. Reilly aus San Juan de la Maguana,
    der Nordamerikaner, und Monsignore Francisco Panal, Bischof von La Vega, der Spanier, waren die Zielscheiben dieser schändlichen Kampagne.
    In den Wochen, die auf den Jubel am 25. Januar 1960 folgten, erwog Salvador zum ersten Mal die Notwendigkeit, Trujillo umzubringen. Am Anfang erfüllte der Gedanke ihn mit Entsetzen; ein Katholik mußte das

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