Das Fest des Ziegenbocks
und trat hinaus, ohne sich zu verabschieden.
Roman blieb da, ohne zu wissen, was er tun sollte. Er entschied sich dafür, in sein Büro zu gehen. Um halb drei Uhr morgens brachte er Mireya, die ein Beruhigungsmittel genommen hatte, in das Haus in Gazcue. Dort fand er seinen Bruder Bibin vor, der die Soldaten der Wache direkt aus einer Flasche Carta Dorada trinken ließ, die er wie eine Fahne schwenkte. Bibin, der Nichtstuer, der Nachtschwärmer, der Leichtfuß, der Glücksspieler, der sympathische Bibin, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Er mußte ihn ins Badezimmer im Oberstock tragen, unter dem Vorwand, ihm beim Übergeben und beim Waschen des Gesichts zu helfen. Kaum waren sie allein, brach Bibin in Tränen aus. Er betrachtete seinen Bruder mit einer grenzenlosen Traurigkeit in den wäßrigen Augen. Ein dünner Speichelfaden hing ihm wie eine Spinnwebe aus dem
Mund. Mit leiser Stimme, stockend, erzählte er ihm, er, Luis Amiama und Juan Tomäs hätten ihn die ganze Nacht in der Stadt gesucht und ihn am Ende in ihrer Verzweiflung verflucht. Was ist passiert, Pupo? Warum hatte er nichts getan? Warum hatte er sich versteckt? Gab es nicht einen Plan? Die Aktionsgruppe hatte ihren Teil getan. Sie hatten ihm den Leichnam gebracht, wie er es verlangt hatte. »Warum hast du dich nicht daran gehalten, Pupo?« Seine Brust hob und senkte sich heftig. »Was wird jetzt aus uns?«
»Es gab widrige Zufälle, Bibin, Navajita Espaillat tauchte plötzlich auf, er hatte alles gesehen. Es war unmöglich. Jetzt…«
»Jetzt sitzen wir in der Scheiße.« Bibin schniefte und schluckte den Rotz hinunter. »Luis Amiama, Juan Tomäs, Antonio de la Maza, Tony Imbert, alle. Aber vor allem du. Du und dann ich, weil ich dein Bruder bin. Wenn du etwas für mich übrig hast, dann verpaß mir gleich hier eine Kugel, Pupo, mit deiner Maschinenpistole, nutz aus, daß ich betrunken bin. Bevor sie es tun. Bei allem, was dir lieb ist, Pupo.«
In diesem Augenblick klopfte Álvaro an die Tür des Badezimmers: Man hatte den Leichnam des Generalissimus im Kofferraum eines Autos gefunden, zu Hause bei General Juan Tomäs Diaz.
Er tat keine Auge zu in dieser Nacht, auch nicht in der nächsten und übernächsten, und wahrscheinlich erlebte er in den viereinhalb Monaten nicht mehr, was Schlafen für ihn gewesen war – ausruhen, sich selbst und die anderen vergessen, sich in einer Nicht-Existenz auflösen, aus der er gestärkt, mit neuem Elan zurückkehrte – , wenn er auch oft das Bewußtsein verlor und lange Stunden, Tage und Nächte in dumpfer Benommenheit verbrachte, ohne Bilder, ohne Gedanken, nur mit dem Wunsch, der Tod möge kommen und ihn erlösen. Alles vermischte und verwirrte sich, als wäre die Zeit eine dicke Suppe geworden, ein Durcheinander, in dem vorher, jetzt und nachher keine logische Abfolge hatten, sondern etwas waren, das ständig wiederkehrte. Er erinnerte sich deutlich an den Anblick von Doña Maria Martinez de Trujillo bei seiner Ankunft im Regierungspalast, wie sie vor dem Leichnam des Chefs geschrien hatte: »Das Blut der Mörder soll bis zum letzten Tropfen fließen!« Und, als gehörte es zusammen, aber es konnte erst am nächsten Tag geschehen sein, an die schlanke, uniformierte, tadellose Gestalt eines bleichen, starren Ramfis, der sich mit steifem Oberkörper über den geschnitzten Sarg neigte, das Gesicht des Chefs betrachtete, das man geschminkt hatte, und murmelte: »Ich werde nicht so großzügig mit den Feinden sein wie du, Papi.« Ihm war, als spräche Ramfis nicht zu seinem Vater, sondern zu ihm. Er schloß ihn in die Arme und seufzte ihm ins Ohr: »Was für ein unwiederbringlicher Verlust, Ramfis. Ein Glück, daß du uns bleibst.«
Gleich darauf sah er sich selbst in seiner Paradeuniform und mit seiner unverzichtbaren Mi-Maschinenpistole in der Hand in der gedrängt vollen Kirche von San Cristóbal bei der Trauerfeier für den Chef. Einige Sätze der Rede eines ins Riesenhafte gewachsenen Präsidenten Balaguer – »Hier ist, meine Herrschaften, von einem heimtückischen Windstoß gefällt, die mächtige Eiche, die mehr als dreißig Jahre lang allen Blitzen trotzte und siegreich aus allen Stürmen hervorging« – trieben ihm Tränen in die Augen. Er lauschte ihm neben dem versteinerten Ramfis, der von Leibwächtern mit Maschinenpistolen umgeben war. Und er sah sich gleichzeitig, wie er (einen, zwei, drei Tage zuvor?) die gewaltige Schlange Tausender und Abertausender Dominikaner aller Altersgruppen,
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