Das Fest des Ziegenbocks
gegenüber, auf dessen Dach in diesem Augenblick ein halbes Dutzend Tauben sitzen, in einer Reihe und in Startposition. Urania tritt ans Fenster. Auch das Haus dieses mächtigen Herrn, der ebenfalls Minister, Senator, Bürgermeister, Außenminister, Botschafter und alles war, was man in jenen Jahren sein konnte, hat sich nicht sehr verändert. Nichts Geringeres als Innenminister im Mai 1961, zur Zeit
der großen Ereignisse.
Das Haus hat noch immer seine grau und weiß gestrichene Fassade, aber es ist ebenfalls auf Zwergengröße geschrumpft.
Man hatte ihm einen vier oder fünf Meter langen Seitenflügel angebaut, völlig unpassend zu dem gotisch anmutenden, vorspringenden, dreieckigen Portikus, wo sie oft, wenn sie zur Schule ging oder am Nachmittag zurückkam, die vornehme Gestalt der Frau von Don Froilán sah. Kaum hatte diese sie erblickt, rief sie: »Urania! Uranita! Komm her, laß dich ansehen, mein Schatz. Was für Augen, meine Kleine! Genauso hübsch wie deine Mutter, Uranita.« Ihre gepflegten Hände mit den langen, tiefrot lackierten Fingernägeln strichen ihr übers Haar. Sie hatte ein schläfriges Gefühl, wenn diese Finger durch ihr Haar glitten und ihre Kopfhaut streichelten. Eugenia? Laura? Hatte sie einen Blumennamen? Magnolia? Er ist aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Aber nicht ihr Gesicht, ihre weiße Haut, ihre seidigen Augen, ihre königliche Gestalt. Immer sah sie aus, als sei sie für ein Fest gekleidet. Urania mochte sie, weil sie liebevoll war, ihr Geschenke machte, sie zum Baden im Swimmingpool des Country Clubs mitnahm, vor allem aber, weil sie eine Freundin ihrer Mutter gewesen war. Sie stellte sich vor, wenn ihre Mutter nicht im Himmel wäre, dann sähe sie so schön und vornehm aus wie die Frau von Don Froilán. Er dagegen hatte nichts von einem schönen Mann. Klein, kahl, rundlich, keine Frau hätte einen Pfifferling für ihn gegeben. Hatte sie ihn aus dem dringenden Bedürfnis nach einem Ehemann oder aus Eigennutz geheiratet? Das fragt sie sich, als sie wie geblendet die Schachtel mit den in Silberpapier eingewickelten Pralinen öffnet, die die Senora ihr gerade mit einem Kuß auf die Wange gegeben hat, nachdem sie vor das Haus getreten war und sie gerufen hatte, als sie aus dem Schulbus stieg – »Uranita! Komm, ich habe eine Überraschung für dich, mein Schatz!« Urania geht in das Haus, küßt die Senora – sie trägt ein Kleid aus bläulichem Tüll, Schuhe mit hohen Absätzen, ist wie für einen Ball geschminkt, mit einer Perlenkette und Ringen an den Händen – , öffnet das in buntbedrucktes Papier eingewickelte und mit einem rosafarbenen Band verzierte Paket. Sie betrachtet die herausgeputzten Pralinen, kann es kaum abwarten, sie zu probieren, aber sie traut
sich nicht, denn das wäre doch unhöflich, oder?, als das Auto auf der Straße hält, ganz in der Nähe. Die Senora macht einen Satz, eine dieser jähen Bewegungen, wie sie Pferde plötzlich machen, als hörten sie einen mysteriösen Befehl. Sie ist blaß geworden, ihre Stimme drängt: »Du mußt jetzt gehen.« Die Hand auf ihrer Schulter verkrampft sich, drückt sie, schiebt sie zur Haustür. Als sie gehorsam ihre Schultasche aufhebt und gehen will, springt die Tür weit auf: die erdrückende Gestalt des Herrn in dunklem Anzug, mit gestärkten weißen Manschetten und goldenen Manschettenknöpfen, die aus den Jackenärmeln herausragen, versperrt ihr den Weg. Es ist ein Herr mit dunkler Brille, der überall ist, auch in ihrer Erinnerung. Sie ist wie gelähmt, perplex, schaut und schaut. Seine Exzellenz schenkt ihr ein beruhigendes Lächeln: »Wer ist das?«
»Uranita, die Tochter von Agustín Cabral«, antwortet die Hausherrin. »Sie geht gerade.«
Und in der Tat geht Urania, sie verabschiedet sich nicht einmal, so beeindruckt ist sie. Sie überquert die Straße, betritt ihr Haus, steigt die Treppe hinauf, späht in ihrem Schlafzimmer durch die Vorhänge und wartet, wartet darauf, daß der Präsident wieder aus dem gegenüberliegenden Haus kommt.
»Und deine Tochter war so naiv, daß sie sich nicht fragte, was der Vater des Vaterlandes dort machte, wenn Don Froilán nicht zu Hause war.« Ihr Vater hat sich beruhigt und hört ihr zu, oder so scheint es, ohne die Augen von ihr zu wenden. »So naiv, daß ich dir entgegengerannt bin, als du aus dem Kongreß kamst, um es dir zu erzählen. Ich habe den Präsidenten gesehen, Papa! Er hat die Frau von Don Froilán besucht, Papa. Du hast vielleicht ein
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