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Das Fest des Ziegenbocks

Das Fest des Ziegenbocks

Titel: Das Fest des Ziegenbocks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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der Verleihung der Doktorwürde in Harvard zeigte? – und, zuletzt, in dem alten Ledersessel mit Rückenlehne und breiten Armstützen, der Alte in einem blauen Pyjama und Hausschuhen. Er wirkt wie verloren in dem Möbel. Er ist verdorrt, eingeschrumpft, genau wie das Haus. Ein weißer Gegenstand zu Füßen ihres Vaters lenkt sie ab: ein Nachttopf, halb mit Urin gefüllt.
    Damals hatte er schwarzes Haar, abgesehen von seinen elegant graumelierten Schläfen; jetzt sind die spärlichen Strähnen seiner Kahlheit gelblich, schmutzig. Seine Augen waren groß, selbstsicher, Herren der Welt (wenn nicht der Chefin der Nähe war); die beiden Schlitze, die sie anstarren, sind klein, maushaft, verschreckt. Er hatte Zähne und jetzt nicht mehr; man muß ihm das künstliche Gebiß herausgenommen haben (sie hatte die Rechnung vor ein paar Jahren bezahlt), denn seine Lippen sind eingezogen und die Wangen derart eingefallen, daß sie sich fast berühren. Er sitzt in sich zusammengesunken, seine Füße berühren kaum den Boden. Um ihn anzusehen, hatte sie einst den Kopf heben, den Hals recken müssen: jetzt würde er ihr, wenn er aufstünde, gerade bis zur Schulter reichen. »Ich bin Urania«, murmelt sie, während sie näher tritt. Sie setzt sich auf das Bett, einen Meter von ihrem Vater entfernt. »Weißt du noch, daß du eine Tochter hast?« Im Innern des Alten regt sich etwas, die knochigen, bleichen Hände mit den zarten Fingern, die auf seinen Beinen liegen, bewegen sich. Aber die winzigen Augen bleiben ausdruckslos, obwohl sie sich nicht von Urania lösen.
    »Ich erkenne dich auch nicht wieder«, sagt Urania leise. »Ich weiß nicht, warum ich hergekommen bin, was ich hier soll.«
    Der kleine Alte hat begonnen, den Kopf zu bewegen, von oben nach unten, von unten nach oben. Aus seiner Kehle kommt ein rauher, langgezogener, stockender Klagelaut, wie ein düsterer Gesang. Aber nach wenigen Augenblicken beruhigt er sich, noch immer mit starr auf sie gerichteten Augen.
    »Das Haus war voller Bücher.« Urania beäugt die nackten Wände. »Was ist aus ihnen geworden? Natürlich, du kannst nicht mehr lesen. Hattest du damals Zeit zum Lesen? Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals lesen gesehen zu haben. Du warst ein zu beschäftigter Mann. Ich bin es jetzt auch, genauso oder mehr als du damals. Zehn, zwölf Stunden in der Kanzlei oder bei Klienten. Aber ich nehme mir die Zeit, jeden Tag ein wenig zu lesen. In aller Frühe, während ich zwischen den Wolkenkratzern von Manhattan den Tag heraufziehen sehe, oder abends, wenn ich die Lichter dieser gläsernen Bienenkörbe anschaue. Ich lese sehr gern. An den Sonntagen lese ich drei oder vier Stunden, nach Meet the Press im Fernsehen. Ein Vorteil meines Alleinlebens, Papa. Das wußtest du, nicht? Dein Töchterchen ist eine alte Jungfer geworden. Wie sagtest du einmal? ›Was für ein Fiasko! Sie hat sich keinen Mann geangeltl‹ Ich auch nicht, Papa. Besser gesagt, ich wollte nicht. Ich bekam Anträge. An der Universität. Bei der Weltbank. In der Kanzlei. Stell dir vor, auch jetzt noch taucht plötzlich ein Verehrer auf. Bei den neunundvierzig Jahren, die ich auf dem Buckel habe!
    Es ist gar nicht so schrecklich, eine alte Jungfer zu sein.
    Zum Beispiel habe ich Zeit zu lesen, statt mich um Ehemann und Kinder zu kümmern.«
    Man könnte meinen, er versteht, er sei interessiert und wage nicht, einen Muskel zu bewegen, um sie nicht zu unterbrechen. Er ist reglos, seine schmale Brust hebt und senkt sich im Takt, die kleinen Augen hängen an ihren Lippen. Auf der Straße fährt dann und wann ein Auto vorbei, Schritte, Summen, Gesprächsfetzen nähern sich, werden laut, leise und verlieren sich in der Ferne. »Meine Wohnung in Manhattan ist voller Bücher«, erzählt Urania weiter. »Wie dieses Haus, als ich ein kleines Mädchen war. Über Recht, Wirtschaft, Geschichte. Aber in meinem Schlafzimmer nur dominikanische Autoren. Zeugnisse, Essays, Memoiren, viele Geschichtsbücher. Ahnst du, zu welcher Epoche? Zur Ära Trujillo, was sonst. Das Wichtigste, das uns in fünfhundert Jahren widerfahren ist. Das sagtest du mit tiefster Überzeugung. Es stimmt, Papa. In diesen einunddreißig Jahren hat sich das ganze Übel kristallisiert, das wir seit der Konquista mitgeschleppt haben. In einigen dieser Bücher kommst du vor, wie eine Romanfigur. Minister, Senator, Präsident der Dominikanischen Partei. Gibt es etwas, das du nicht warst, Papa? Ich bin zu einer Trujillo-Expertin geworden. Statt Bridge

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