Das Fest des Ziegenbocks
Spezialgebiet, bei dem sie gelandet ist, nachdem sie viele Jahre in der Rechtsabteilung der Weltbank gearbeitet hatte. Die Reisen sind anstrengender als die Arbeitstage in Manhattan. Fünf-, zehn- oder zwölfstündige Flüge nach Mexiko-Stadt, Bangkok, Tokio, Rawalpindi oder Harare und dann sofort Gutachten abgeben oder anhören, über Zahlen diskutieren, Projekte evaluieren und dabei Landschaften und klimatische Verhältnisse wechseln, von der Hitze in die Kälte, von der Feuchtigkeit in die Trockenheit, vom Englischen zum Japanischen und zum Spanischen und zum Urdu, zum Arabischen und zum Hindi, unter Zuhilfenahme von Dolmetschern, deren Irrtümer zu falschen Entscheidungen führen können. Deshalb muß sie ihre fünf Sinne immer wachhalten, einen Zustand der Konzentration aufrechterhalten, der sie erschöpft, so daß sie bei den unvermeidlichen Empfängen kaum das Gähnen unterdrücken kann.
»Wenn ich einen freien Samstag oder Sonntag habe, dann bleibe ich mit Freuden zu Hause und lese in der dominikanischen Geschichte«, sagt sie, und ihr scheint, als würde ihr Vater zustimmend nicken. »Eine ziemlich spezielle Geschichte, ehrlich gesagt. Aber mich entspannt es. Es ist meine Art, nicht die
Wurzeln zu verlieren. Obwohl ich dort doppelt so lange gelebt habe wie hier, bin ich keine Gringa geworden. Ich spreche doch noch immer wie eine Dominikanerin, Papa, oder?«
In den Augen des Invaliden blitzt ein – ironischer? – Funke. »Schön, mehr oder weniger wie eine Dominikanerin, eine von dort. Was kann man von jemandem erwarten, der länger als dreißig Jahre unter Gringos gelebt hat, der ganze Wochen kein Spanisch spricht. Weißt du, daß ich sicher war, daß ich dich nie wiedersehen würde? Nicht einmal zu deinem Begräbnis wollte ich kommen. Das war eine unumstößliche Entscheidung. Ich weiß, daß du gern wissen würdest, warum ich mich nicht daran gehalten habe. Warum ich hier bin. Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht. Es war ein Impuls. Ich habe nicht lange überlegt. Ich habe um eine Woche Urlaub gebeten, und hier bin ich. Etwas werde ich hier wohl suchen wollen. Dich vielleicht. Herausfinden, wie es dir geht. Schlecht, das wußte ich, und daß man seit dem Schlaganfall nicht mehr mit dir sprechen kann. Würdest du gerne wissen, was ich fühle? Was ich gefühlt habe, als ich in das Haus meiner Kindheit zurückkehrte? Beim Anblick des Wracks, in das du dich verwandelt hast?«
Ihr Vater ist wieder aufmerksam. Er wartet neugierig, daß sie fortfährt. Was fühlst du, Urania? Bitterkeit? Eine gewisse Melancholie? Traurigkeit? Ein erneutes Aufsteigen des alten Zorns? ›Das schlimmste ist, daß ich glaube, daß ich nichts fühle‹, denkt sie.
Die Türklingel ertönt. Ein anhaltendes, vibrierendes Läuten am glühendheißen Vormittag.
VIII
Das Haar, das ihm auf dem Kopf fehlte, wuchs ihm aus den Ohren, in pechschwarzen Büscheln, die sich in ihrer Aggressivität wie ein grotesker Ausgleich für die Kahlheit des Flüssigen Verfassungsrechtlers ausnahmen. Hatte auch er ihn mit diesem Spitznamen bedacht, bevor er ihn in seinem tiefsten Innern umgetauft und Lebender Dreck genannt hatte? Der Wohltäter konnte sich nicht daran erinnern. Vermutlich ja. Er war gut darin, Spitznamen zu verteilen, schon in seiner Jugend. Viele seiner grausamen Spottnamen, die er den Leuten überstülpte, gingen seinen Opfern in Fleisch und Blut über und traten an die Stelle ihrer richtigen Namen. Wie im Fall des Senators Chirinos, den in der Dominikanischen Republik, abgesehen von den Zeitungen, niemand mehr unter seinem Namen kannte, nur noch unter seinem verheerenden Spitznamen: der Flüssige Verfassungsrechtler. Er hatte die Gewohnheit, mit den fettigen Borsten herumzuspielen, die in seinen Ohren nisteten, und obwohl der Generalissimus ihm in seinem Sauberkeitswahn verboten hatte, es vor ihm zu tun, tat er es jetzt gerade, wobei er diese Widerwärtigkeit obendrein mit einer anderen abwechselte: sich über die Härchen zu streichen, die ihm aus der Nase wuchsen. Er war nervös, sehr nervös. Er wußte, warum: er brachte ihm einen negativen Bericht über den Stand der Geschäfte. Aber nicht Chirinos war schuld daran, daß die Dinge schlechtliefen, sondern die von der OAS auferlegten Sanktionen, die dem Land die Luft abdrehten. »Wenn du dir weiter in der Nase und in den Ohren herumbohrst, rufe ich die Adjutanten und lass’ dich einsperren«, sagte er schlechtgelaunt. »Ich habe dir diese Schweinereien hier verboten.
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