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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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oben bei den Engeln. Aber da gab es keine Engel, John. Da oben gab es überhaupt nichts. Als ich wieder nach unten kam, waren du und deine Ma weg. Cassie hat mir gesagt, dass ihr in Bucclas Wald gelaufen seid. Marpot hat uns weggeführt, damit wir nach Eden kommen. Hat uns über die ganze Tiefebene marschieren lassen bis nach Zoyland. Aber da war kein Eden ...«
    Der Mond stieg höher. Johns Gesicht fühlte sich nass an. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, aber das Gefühl wollte nicht weichen. Die blutende Wunde an seinem Kopf, nahm er an. Er stolperte neben Abel einher, der über die Weiden blickte, sein Gesicht grau in dem fahlen Licht.
    »Es gab nicht einmal eine Kirche«, fuhr Abel fort, während John sich an das Bild in Calybutes Zeitungsblatt erinnerte. »Nur eine Scheune. Marpot hat die Frauen da reingesteckt, und sie mussten sich nackt ausziehen.«
    »Nicht Cassie«, sagte John.
    Abel grinste. »Du hattest ein Auge auf sie geworfen, wie?«
    »Ja«, sagte John. Es schien gleichgültig zu sein, was er Abel gegenüber einräumte. »Das hatte ich. Ich dachte, sie hätte auch etwas für mich übrig.«
    »Stell dir mal vor«, sprach Abel weiter. »Unsere Cassie als Ehefrau eines Kochs im Gutshaus. Wäre besser als das, was sie gekriegt hat.«
    »Woher weißt du, dass ich ein Koch geworden bin?«, fragte John.
    »Du bist doch kein Soldat, oder?«
    Sie stapften am Rand der mondbeschienenen Wiesen entlang; John war sich nicht sicher, ob sie Gefangener und Häscher waren oder zwei Flüchtende auf gemeinsamer Flucht. Minutenlang schien Abel Johns Anwesenheit zu vergessen. Doch jedesmal, wenn John etwas sagen wollte, sprach Abel wieder.
    »Marpot hat den Priester aus der Kirche in Buckland rausgezerrt«, sagte er unversehens.
    »Warst du dabei?«
    »Hab genug zu sehen bekommen. Wenn man dem Teufel den Finger
reicht, schuldet man Gott die ganze Hand. So denkt Marpot. Auf einem Karren führt er einen Richtblock mit. Er hätte euren Pater Yapp kassiert, wenn Lady Lucy das nicht verhindert hätte. Sie hat ihm die Hölle heißgemacht. Kannst du dir ja vorstellen.«
    John lächelte. Das konnte er wahrhaftig.
    Ab und zu hörte John leise Schreie. Ein Geräusch wie von knarrenden Wagenrädern ertönte und erstarb. Sie wanderten um ein Gehölz herum, kletterten über einen Zauntritt und gingen über eine Wiese.
    »Abel, wohin gehen wir?«
    »Schau, da drüben!«
    Dort stand der eingestürzte Brunnen. John starrte hin; in seinem Kopf pochte es. Offenbar waren sie im Kreis gegangen, dachte er. Wie lange würde diese Nacht währen?
    »Denkst du, du kannst ihn von hier aus treffen?«, fragte Abel und schüttelte seinen Beutel voller Steine. »Den Ellbogen hoch halten, weißt du noch? Und aus dem Handgelenk werfen. So.«
    Er warf einen Kieselstein, der eine flache und gerade Bahn beschrieb, bis er den Brunnen traf. Dann wählte John einen Kiesel, der sich seltsam leicht anfühlte. Er warf ihn, und es war, als zöge der Brunnen den Stein an.
    »So ist es richtig«, sagte Abel ermutigend. »Mach so weiter, John.«
    In Johns Kopf hatte es wieder zu pochen begonnen, doch es kümmerte ihn nicht mehr, als Abel ihm zeigte, seinen Arm im richtigen Winkel zu halten. Sie waren zurück in Buckland. Es war wie in alten Zeiten. Aber es gab keine kranken Kinder. Keine Fackeln um ihre Hütte herum. Keine Flammen erleuchteten die Nacht. Abel nahm seinen Hut ab und drückte ihn John auf den Kopf.
    »Alles wird für dich gut ausgehen, John«, sagte Abel. »Wie in Bucclas Wald, als deine Ma nicht aufgewacht ist. Oder im Gutshaus, als Sir William die Treppe hinunterkam. Hier genauso.«
    Das Pochen in Johns Kopf war wieder stärker geworden. Wie konnte Abel wissen, was in Bucclas Wald geschehen war? Oder in der Küche? Er wollte die Frage in Worte fassen, aber Erschöpfung brach über ihn
herein wie eine schwarze Welle. Er schloss die Augen und merkte, dass er sie nicht wieder öffnen konnte. Er konnte Abel nicht mehr fragen. Er konnte gar nichts fragen. Er sank immer tiefer. Fiel wieder. Und dann war er angekommen.
    Der Boden war hart wie ein Brett und stieß holpernd und polternd gegen seinen Rücken. Abscheulicher Gestank stieg ihm in die Nase. Der Geruch feuchter Leichentücher hüllte ihn ein. Er öffnete die Augen.
    Ein einzelnes Auge starrte ihn an aus einem Gesicht, das vom Ohr bis zum Kinn gespalten war. Weitere Tote lasteten auf ihm. Er war gefangen unter einem Gewirr aus Armen, Beinen und Köpfen, allesamt zermalmt, in Stücke

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